Sonderzüge in den Tod

Projekt zur Deutschen Reichsbahn und der TH in der Nazi-Zeit

Wären nicht die Gedenktafeln an der Treppe und im Gleisbett am S-Bahnhof Grunewald im ruhigen Berliner Südwesten, würde hier nichts an die Massen von verängstigten und verzweifelten Menschen erinnern, die ab 1941 Woche für Woche hier zusammengetrieben wurden. Der damalige Güterbahnhof – Gleis 17 - war zum zentralen „Verladebahnhof für menschliche Fracht“ mutiert, wie ihn Kulturstaatsministerin Monika Grütters bei der Eröffnung des Mahnmals 2014 nannte. Jüdische Frauen, Männer und Kinder reisten von diesem Zentrum der Vernichtungslogistik der Nationalsozialisten mit 187 außerplanmäßigen Sonderzügen in den Tod. 

Erinnerungskultur von großer Bedeutung für Ingenieur*innen

„Eine Erinnerungskultur, ein humanistischer Geist, ist für Bahn-Ingenieur*innen von großer Bedeutung – denn sie haben Verantwortung“, erklärte Verkehrswesen-Student Moritz Wühr zu Beginn einer Eisenbahnwesen-Online-Veranstaltung Mitte November 2020, die mit einem außergewöhnlichen Thema aus dem Rahmen fiel. Normalerweise befasst sich das traditionsreiche Seminar am Institut für Land- und Seeverkehr mit eher technischen Fragen rund um Koppelungssysteme, um Planungen oder Lärm. Diesmal beschäftigte es sich mit den Bahn-Fachgebieten der TH Berlin, der Vorgängerinstitution der TU Berlin in der NS-Zeit sowie mit der Beteiligung der Deutschen Reichsbahn an den Deportationen zigtausender von Jüdinnen und Juden aus Berlin in die Gaskammern der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Zu Gast als Vortragende war außer ihm auch Dr. Susanne Kill, seit 1999 Leiterin der Abteilung Konzerngeschichte und der Historischen Sammlung der Deutschen Bahn AG. Diese bereitet mit Veranstaltungen, Ausstellungen oder Dokumentationen wie „Sonderzüge in den Tod“ ihre Geschichte auf und will damit unter anderem die Verstrickung der Deutschen Reichsbahn in die Machenschaften der Nationalsozialisten transparent machen.

TH-Professoren der damaligen Bahn-Fachgebiete hatten Schlüsselpositionen in jenen Reichsbahnabteilungen eingenommen, die Deportationen planten und durchführten

Als Werksstudent bei der Deutschen Bahn hatte Moritz Wühr die Historikerin Susanne Kill kennengelernt. Durch seine vorherige Mitarbeit am Projekt „Erinnerungswerkstatt“, eines für alle Student*innen offenen Moduls des TU-Zentrums für Antisemitismusforschung, hatte er bereits Erfahrung mit Archivrecherche. Nun wandte er sich mit Fragen an die Historische Sammlung der DB. Denn, wie er herausgefunden hatte, gipfelte nicht nur die Einordnung des Staatsbetriebes Deutsche Reichsbahn in den nationalsozialistischen Staat in dessen direkter Beteiligung am Zweiten Weltkrieg und an den Verbrechen des Regimes. Auch die Technische Hochschule Berlin, war eng mit der nationalsozialistischen Kriegsforschung verbunden. TH-Professoren der damaligen Bahn-Fachgebiete hatten Schlüsselpositionen in jenen Reichsbahnabteilungen eingenommen, die Deportationen planten und durchführten. Einige von ihnen wurden sogar später, nach einer „Entnazifizierung“, auf einen Lehrstuhl an der TU Berlin berufen. In seinem „Werkstattbericht“, den Moritz Wühr zusammen mit Susanne Kill vorstellte, werden anhand der Biografien dreier Lehrender der TH Berlin und später der TU Berlin, die Verstrickungen der Academia in die NS-Gewaltherrschaft aufgezeigt.

Ministerialdirigenten, Oberreichsbahnräte und Bevollmächtigte wurden „entnazifiziert“

Da ist zum Beispiel Prof. Dr.-Ing. Wilhelm Wechmann, von 1936 bis 1945 Professor für elektrische Bahnen an der Technischen Hochschule Berlin, der Vorgängerinstitution der TU Berlin. Er war Ministerialdirigent im Reichsverkehrsministerium. „Aufgrund seiner ranghohen Position ist mindestens von einem detaillierten Mitwissen über die Deportationszüge auszugehen, wenn nicht sogar von einer Beteiligung bei der Planung“, erklärte Moritz Wühr. Oder der Oberreichsbahnrat Dipl.-Ing. Ernst Parow, der Oberingenieur am Lehrstuhl für Eisenbahn- und Verkehrswesen der TU Berlin wurde. Dem Reichsbahn-Organigramm zufolge war die Fahrplanung Hauptaufgabe der Betriebsleitung. „Es muss davon ausgegangen werden“, so Wühr, „dass Parow in seinem Rang mindestens detailliert von den Abläufen der Deportationszüge gewusst, wenn nicht sogar an deren Planung beteiligt gewesen sein muss.“  

1957 wurde Ewald Graßmann Professor am Lehrstuhl für Eisenbahnbau und -betrieb der TU Berlin. Er war sehr früh, 1933, der NSDAP beigetreten, hatte bei der Reichsbahn eine steile Karriere hingelegt und war 1942 Oberreichsbahnrat geworden. 1944 wurde er Reichsbahnbevollmächtigter, der als solcher insbesondere für die Sonderzugabwicklung notwendig war. Bei seiner „Entnazifizierung“ wurde er als „Mitläufer“ eingestuft.

Die Ergebnisse des Werkstattberichts sollen in den kommenden Wochen auf einer eigenen Projekt-Website im Internetauftritt der TU Berlin veröffentlicht werden. Wer den Vortrag verpasst hat: Der Mitschnitt des Vortrags ist online zu finden.

Autorin: Patricia Pätzold