Sanam Naraghi Anderlini, MBE, Direktorin des Centre for Women, Peace and Security der London School of Economics and Political Science, hielt die Queen’s Lecture am 1. November 2021 an der TU Berlin mit dem Titel: „Blueprint for Peace in C21st: So little done, but it’s not too late”
Frau Anderlini, Sie sind als Friedensstrategin international bekannt, kämpfen auch als Rechtsanwältin für die Anerkennung von Menschenrechten, insbesondere von Frauenrechten weltweit. An der London School of Economics and Political Science haben Sie das Netzwerk ICAN, das International Civil Society Action Network, dessen Direktorin Sie sind. Wofür steht das ICAN und was bedeutet es für Sie?
Ich habe dieses Non-Profit-Netzwerk gegründet, um die Grundlagen der modernen kriegerischen Auseinandersetzungen zu untersuchen und die Rolle der unbewaffneten Akteure dieser Kriege zu unterstützen, zumeist Frauen. Denn sie sind es, die überall auf der Welt maßgeblich für die Friedensbildung agieren. Inzwischen arbeiten wir mit mehr als 40 unabhängigen, frauengeführten Organisationen weltweit zusammen.
Was ist die Quintessenz Ihrer Untersuchungen?
Ich habe mir viele Jahre lang Kriege und Konflikte angeschaut, die weltweit nach dem Kalten Krieg entstanden. Sie unterscheiden sich wesentlich von früheren Kriegen. Sie sind sehr viel komplexer und facettenreicher als diese, sowohl, was die zugrundeliegenden Konflikte als auch, was die Zusammensetzung der involvierten Akteur*innen betrifft. Da sind zum Beispiel der kriegerische Völkermord in Ruanda oder der Bosnienkrieg Anfang der 1990er-Jahre. Sie scheinen zunächst Bürgerkriege zu sein. Doch bei genauerem Hinschauen sieht man, wie viele Akteure, zivile, politische und militärische, in- und ausländische, darin verwickelt sind. Auch Syrien ist so ein Fall. Zunächst sah es aus wie ein Konflikt zwischen einem Diktator und seinem Volk. Doch tatsächlich ist dieser überlagert von diversen regionalen Auseinandersetzungen, unter anderem mit dem Iran und Saudi-Arabien. Von außen kam dann Russland dazu, später die USA mit ihrem großem Iran-Konflikt. Neben die staatlich finanzierten Organisationen treten schließlich auch noch kriminelle Netzwerke, von denen wiederum einige mit den staatlichen Akteuren verflochten sind. Es sind unglaublich große und vielfältige Quellen der Gewalt.
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Was unterscheidet sie noch von früheren Kriegen?
Vor allem greifen die Konflikte heute viel stärker in die Zivilgesellschaft ein. Der Erste Weltkrieg fand vor allem auf den Schlachtfeldern statt. Heute sind die Häuser der Menschen, ihre Dörfer und Schulen die Bühne der Kriege. Die Akteure sind zudem geprägt von bestimmten Identitäten, von Zugehörigkeiten zu Clans, zu Stämmen, zu Religionen. Es sind also sehr komplexe gesellschaftliche Konflikte. Eine Beobachtung, die man überall machen kann, ist es, dass es oft die unbewaffneten, lokalen Akteur*innen sind, die zu regelrechten Friedensakteur*innen geworden sind. Und das sind meistens Frauen. Sie bleiben zurück und müssen mit den Konsequenzen umgehen. Wie in Liberia, wo die Männer gekidnappt und getötet wurden, oder in Palästina, wo die Männer in Proteste und Straßenkämpfe verwickelt waren und inhaftiert wurden. Die Frauen müssen dann für das Überleben sorgen. Sie sind unsichtbar, werden als irrelevant und nicht als Bedrohung wahrgenommen. Das nutzen sie schließlich für den Überlebenskampf, die Nahrungsbeschaffung und den Weiterbestand der Gesellschaft.
Woraus speist sich Ihr spezielles Interesse an dieser Thematik?
Ab 1996 arbeitete ich in London zusammen mit Kolleg*innen mit Frauen in und aus verschiedenen Erdteilen. Wir arbeiten politisch an der Ergründung und Befriedung sozialer Konflikte, mit Helfer*innen und Organisationen vor Ort, mit Politiker*innen und Journalist*innen. Die zweite Dimension ist eine sehr persönliche. Ich war elf Jahre alt, als die iranische Revolution 1979 begann. Für Leute wie meinen Vater und meine Onkels, intellektuelle, kritische Leute, wurde es gefährlich sich in der Öffentlichkeit aufzuhalten, sie wurden schließlich verhaftet, und ich hatte sieben Jahre lang Gelegenheit zu beobachten, wie sich die Rolle der Frauen in der Aufrechterhaltung des Lebens änderte. Schließlich ist es uns gelungen, nach Europa zu reisen, und wir blieben dort. Das Thema blieb in meinen politischen Studien immer präsent. Ein besonderes Highlight war eine große Frauenkonferenz 1998 in London mit 50 Frauen von überall auf der Welt. Sie brachte unglaublich viele neue und sehr unterschiedliche Erkenntnisse darüber, welche Rolle welche Akteure in den sozialen Konflikten spielen und welchen Einfluss sie auf die Natur des Krieges haben. Vor allem aber auch, dass die Beschneidung der Rechte der Frauen immer wieder negative Auswirkungen auf den Friedensprozess hatte und hat. Das sieht man in Israel, in Nord-Irland, bei den Tamilen und Singhalesen und jetzt wieder sehr stark in Afghanistan. Eine Erkenntnis aus dieser Konferenz war besonders erhellend: Als die Frauen ins Gespräch kamen, stellten sie fest, dass sie mehr gemeinsam haben als nur ihr Geschlecht, ganz unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Religion: die Vision vom friedlichen Zusammenleben. Der Wunsch nach einem universellen Friedenstisch. Uns war klar, dass wir ein Netzwerk brauchten.
Nicht lange darauf, im Jahr 2000, verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1325 „Frauen, Frieden und Sicherheit“, deren Hauptautorin Sie waren und die als großer Durchbruch für Frauenrechte gefeiert wurde. Was sind die wichtigsten Punkte in dieser Resolution?
Es geht vor allem darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, um Konflikte zu verhindern beziehungsweise gewaltfrei zu lösen und um die Rolle, die Frauen dabei spielen. Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es der Integration von Frauen in die wesentlichen, politischen Verhandlungen, um ihre konkrete Einbeziehung in friedensbildende Prozesse. Weiter geht es um den physischen und den gesetzlichen Schutz von Geflüchteten und von Frauen, die als Kämpfer*innen aktiv waren. Waren sie das freiwillig oder wurden sie gezwungen? Damals sprach man ja bei den Vereinten Nationen über alles, nur nicht über Frauenbelange. Wir konnten aber nachweisen, dass es notwendig ist, eine bedeutende Anzahl von Frauen in die Gremien und Prozesse einzubinden, da sie ja besonders betroffen sind von den Konflikten – von polizeilichen und wirtschaftlichen Maßnahmen, von ökonomischer und sexueller Ausbeutung, von Krankheiten, die sie sich als Sexarbeiterinnen für die siegreichen Kämpfer zuziehen, zum Beispiel in Kambodscha.
Und wie war der Erfolg bisher?
Tja, Sie sehen, auch 20 Jahre nach der Verabschiedung der Resolution, die immerhin 163 Staaten unterschrieben hatten, gibt es nur wenige Konfliktländer, die Frauen systematisch politisch einbinden. In Afghanistan haben politisch aktive Frauen in den letzten Jahren Vieles erreicht, sie haben die Inhalte von Verhandlungen verändert und besonders den Bildungsbereich geöffnet. Das alles ist jetzt unter der Talibanherrschaft wieder in Frage gestellt, denn die Taliban wollen diese Vielstimmigkeit, diese Inklusivität nicht. Leider sind auch viele der Vermittler und Verhandler nicht vertraut mit den Vorteilen dieser Inklusivität. Uns gegenüber entschuldigen sich die Diplomaten immer mit der Ausrede: „Die Taliban sprechen nun mal nicht mit Frauen.“ So wird sich das Design der Friedenstische nicht ändern! Die Friedensgespräche sind so keine echten Friedensgespräche. Hier ist dringend politische Aufklärung auch der Verhandler aus der westlichen Welt nötig.
Welche Möglichkeiten hat Ihre Allianz von mehr als 40 Partnerorganisationen weltweit, den Menschen in Afghanistan zu helfen?
Wir haben mehrere Partnerorganisationen vor Ort. Sie arbeiten in der Prävention von Gewalt, in der Friedensbildung und an der Durchsetzung von Menschenrechten. Das sind übrigens sowohl Frauen als auch Männer, teilweise sehr anerkannte Leute in ihrem kommunalen Bereich. Mein Telefon steht Tag und Nacht nicht still und wir schauen, auch sehr praktisch, was wir tun können. Herausholen können wir kaum Leute, das wäre bei einem 40-Millionen-Volk auch ein Tropfen auf den heißen Stein. Daher setzen wir vor allem auf Verhandlungen, insbesondere auch, um die Machthaber von der Notwendigkeit von Schulbildung und gesellschaftlicher Teilhabe von Frauen zu überzeugen. Wir arbeiten außerdem am Bankensystem, denn es werden dringend Ressourcen gebraucht. Zum Teil geht es derzeit auch um das pure Überleben, also um die Beschaffung von Nahrungsmitteln. Aber wir arbeiten auch mit Regierungsorganisationen weltweit zusammen, besorgen Visa, schauen, welche Grenzen einen sichereren Transport erlauben. Auf unserer Liste besonders gefährdeter Personen stehen immer noch mehr als 900 Personen.
Wird das Thema Afghanistan auch in Ihrem Vortrag bei der Queen’s Lecture eine Rolle spielen?
Oh ja, selbstverständlich. Denn die Krise in Afghanistan wirft ein Schlaglicht darauf, wie die westliche Welt bereit und in der Lage ist, ihre Verantwortung für die Errichtung und Einhaltung der Menschenrechte, zu übernehmen. Die Queen’s Lecture wurde in den Sechzigerjahren ja auch aus dem Wunsch geboren, die deutsch-britischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu normalisieren. Sie reiht sich ein in die inzwischen 76 Jahre andauernden Versuche, eine globale Architektur der Menschenrechte zu designen. Heute haben wir alle Bausteine dafür. Alle politischen Statements sind getan, alle Werte sind entwickelt, Engagement ist ebenfalls da. Aber wenn wir heute auf die Konfliktzonen schauen: Wer kämpft für die Menschenrechte, wer schaut in den Straßen in die Gewehrrohre der Unterdrücker? Es sind die Frauen. Ihre Regierungen sind von der Verantwortung für die Etablierung ihrer Rechte zurückgetreten. In dem Moment, wo sie auf die Probe gestellt werden, brechen sie zusammen. Das müssen wir ändern. Wir haben den Frieden zu lange für selbstverständlich gehalten. Jetzt ist es an der Zeit wieder in den Frieden zu investieren – mehr als in den Krieg!
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Patricia Pätzold.