„Es ist ein Trugschluss, in der Einwanderung eine einfache Lösung für ökonomische Probleme zu sehen“

Migrationsforscherin Felicitas Hillmann über Arbeitsmarktintegration, Lernprozesse für Brandenburgs Städte sowie Unterschiede bei der Zuwanderung 2015 und in Folge des Ukraine-Krieges

Frau Prof. Hillmann, ein Befund Ihrer Brandenburg-Studie war, dass bei den befragten Bürgermeistern die Hoffnung bestanden hatte, dass mit den Schutzsuchenden 2015/2026 sowohl die demografische Schrumpfung ihrer Kommunen aufgehalten, als auch der Fachkräftemangel eingedämmt werden könnte. Beide Hoffnungen erfüllten sich nicht. Wäre es von daher falsch, wenn die Kommunen bei den ukrainischen Geflüchteten wieder diese Hoffnungen hegten?

Ganz und gar nicht. Die Kommunen sind gut beraten, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir haben jetzt auch eine ganz andere Situation als 2015/2016. Da kamen aus Syrien zunächst gebildetere Menschen. Nach und nach ließ das Bildungsniveau nach und unter den Zuwandernden waren auch viele Analphabetinnen und Analphabeten. Jetzt stehen die Kommunen eher vor dem Problem, für die gut ausgebildeten Frauen aus der Ukraine, die gerne arbeiten würden, keine Kinderbetreuung zu finden. Wir brauchen Fachkräfte, das ist glasklar. Aber der Trugschluss ist, in der Migration eine einfache Lösung für ökonomische Probleme zu sehen. Dem ist nicht so. Ich will das an einem Beispiel erklären. Deutschland muss sich darüber klar sein, dass es auf dem internationalen Arbeitsmarkt im Ringen um Fachkräfte, etwa Pflegekräfte, gar nicht so gut dasteht, allein schon wegen der deutschen Sprache. Was Deutschland derzeit attraktiv macht, sind die sehr guten und kostenlosen Universitäten. Im Grunde sind sie vielfach die Instanzen, die durch die Annahme von Studierenden und der damit verbundenen Visavergabe über die Fachkräfte von morgen entscheiden. Ansonsten aber klagen Vermittlungsagenturen für Fachpersonal weltweit über die verworrene Bürokratie in Deutschland und den langen Vorlauf in der Vermittlung von Arbeitskräften. Und noch etwas muss man bedenken: Langfristig zahlen sich nur Modelle der fairen Migration aus. Herkunfts- und Zielland und natürlich die Migrantinnen selbst müssen etwas von dem Deal haben. Auch in vielen Auswanderungsländern altert die Bevölkerung, und sie sind dringend auf die wenigen jüngeren Arbeitskräfte angewiesen. Deshalb sollte man bei der Anwerbung von Arbeitskräften auch schon einen Plan haben, wie man sie dann auch – salopp gesagt – bei Laune hält.

Rassistisch, sexistisch, egoistisch

Die Fluchtbewegungen 2015/2016 war mancherorts von heftigen Protesten begleitet. Gebäude, die als Unterkünfte für die Geflüchteten vorgesehen waren, wurden abgebrannt. Diese Abwehrhaltung und Feindseligkeit gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen gibt es bislang nicht. Wie erklären Sie sich das?

Vier Gründe: Einer ist rassistisch. Man sieht den Ukrainerinnen und Ukrainern, anders als den Syrerinnen und Syrern, ihre Herkunft meist nicht an. Ein zweiter ist sexistisch: 2015/2016 waren es 80 Prozent allein reisende Männer aus Syrien und Afghanistan. Da wurde etwas mitgedacht, wie sich die Männer verhalten aufgrund ihres Geschlechts. Aus der Ukraine kommen jedoch überwiegend Frauen – 72 Prozent – oft mit Kindern. Der dritte ist egoistisch: Deutschland ist von dem Krieg in der Ukraine nur durch Polen getrennt. Die Menschen fühlen sich stärker betroffen. Die Angst ist groß, dass der Krieg sich auch auf Deutschland ausweiten könnte. Und der vierte ist ein technischer Grund. Die Menschen haben den Umgang mit den sozialen Medien inzwischen etwas besser gelernt. Während der Fluchtmigration 2015/2016 war auch die Zeit des Ausprobierens der sozialen Netzwerke wie Twitter, Facebook, WhatsApp. Und Migration war ein dankbares Thema, weil es emotional aufgeladen war wie wenig andere Themen. Heute – so scheint es mir jedenfalls – sind wir einen Schritt weiter. Wir wissen, dass Fakenews, Trolls und gezielte Desinformation Realität sind.

Verästelte Bürokratie, zersplitterte Kompetenzen

Niemand weiß, wie sich der Ukraine-Krieg entwickeln wird. Vor welche Herausforderung stellt das die Migrationspolitik in Brandenburg auf Landes- und kommunaler Ebene?

Laut neuesten Zahlen waren im Oktober 2022 30.020 Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit im Land Brandenburg gemeldet. Unmittelbar nach Kriegsbeginn im März 2022 kamen 9.975 Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit ins Land Brandenburg, ab Oktober 2022 dann monatlich weniger als 700.Ein großes Problem der Kommunen in Brandenburg in der Migrationskrise 2015/2016 waren die verästelte Bürokratie und zersplitterten Kompetenzen. Obwohl Wohnen, Arbeitsmarkt und Bildung Teilaspekte der Integration sind – gibt es unterschiedliche Ressortzuständigkeiten und Widersprüchlichkeiten in den Regulierungen. Viele Städte versuchen inzwischen, dieses Kuddelmuddel in den Griff zu bekommen, indem sie die zersplitterten Kompetenzen bündeln.

 

Sind die Flüchtlinge aus der Ukraine auf besser vorbereitete Kommunen in Brandenburg gestoßen als 2015/2016?

Ja, und die Zivilgesellschaft hat da Großartiges geleistet. Und das sollte angemessen gewürdigt werden. Denn man muss sich klar machen, dass die Zuwanderung für viele kleine Städte in Brandenburg 2015/2016 den ersten Kontakt mit Migration bedeutete. In den Interviews der Brandenburg-Studie sagten die Bürgermeister, dass viele Menschen in den kleinen und mittleren Städten die Migrantinnen sozusagen als ‚Fallout‘ der Globalisierung ansahen und dass sie sich gerne weiter verschlossen hätten vor dieser anderen Welt, die nun bei ihnen an die Tür klopfte. Gefühle der Bedrohung kamen auf, was wiederum Ängste mobilisierte, wie das alles zu bewältigen sei. Aber es hat auch dazu geführt, dass die versteinerten Verwaltungen in den Kommunen begannen, sich mit dem Thema Migration auseinanderzusetzen und zu akzeptieren, dass man in einer globalisierten Welt lebt und Migration nicht aufhören wird. So wurden akademisch ausgebildete Menschen in den Verwaltungen eingestellt, die Migrationswissen mitbrachten und Konzepte ausarbeiteten, wie die Stadt für Zuwanderer attraktiver wird.

„Die schicke Diversität von heute ist immer die Migration von gestern“

Damals entstand der Eindruck, dass die Abschottung ein ostdeutsches Problem ist. War das gerecht?

Ich wage zu behaupten, dass wir seit etwa zehn Jahren eine Spaltung zwischen den Städten in Deutschland sehen: zwischen westdeutschen Städten, denen es gelingt, eine Mischung unterschiedlichster Migrationsformen anzuziehen, und solchen, mehrheitlich im Osten, die die Zuwanderung nur als Belastung empfinden und die mit den Neuankömmlingen nichts anfangen können. Im letzten Jahrzehnt haben sich die Städte in Westdeutschland, auch Berlin, intensiv mit Migration beschäftigt. Sie haben erkannt, dass Migration bei der Stadtentwicklung hilft, ein Standortvorteil sein kann, und sie setzen ihre Weltoffenheit bewusst für eine positive Vermarktung ihrer Kommune ein. Doch was dabei nicht vergessen werden darf: Für die Kommunen in Westdeutschland war das ein langer, anstrengender Prozess des Zusammenwachsens, der mit dem ersten italienischen und türkischen Gastarbeiter in den 1950er-Jahren begann und lang nicht abgeschlossen ist. In Ostdeutschland fehlt diese Erfahrung mehrheitlich. Die schicke Diversität von heute ist immer die Migration von gestern.

 

Auf welchen Ebenen sehen Sie positive Entwicklungen in Brandenburg hinsichtlich der Integration der Ukraine-Flüchtlinge?

Positiv ist das starke Engagement der Stadtgesellschaft. Es darf ja nicht außer Acht geraten, dass es in den Brandenburger Kommunen genauso Bürgerinnen und Bürger gab, damals als Gutmenschen abgekanzelt, die die Zuwanderung als Bereicherung empfanden. Doch Integration ist ein Marathonlauf. Aufnahmeangebote sind eine langfristige Investition. Die erste Hilfe bei Ankunft ist das eine. Viel mühsamer ist es, ohne Betriebsanleitung eine funktionierende Stadtgesellschaft unter Krisenbedingungen zu gestalten. Aus der Brandenburg-Studie habe ich gelernt: Die Zivilgesellschaft holt oft die Kastanien aus dem Feuer und die Stadtpolitik tut gut daran, sich um langfristige, partizipative Stadtentwicklungsansätze zu bemühen.

 

Ist da nicht auch die universitäre Forschung gefragt?

Ja. Deutschland ist keine Insel, sondern wir können gar nicht anders, als uns auf anhaltende internationale Migration unter den Bedingungen multipler Krisen – Klimawandel, Kriege, Pandemien – einzustellen. Wir müssen komplex denken und lokal handeln können. Dazu brauchen wir mehr interdisziplinäre und transdisziplinäre Forschung, die Migration als Teil gesellschaftlicher Entwicklung und sozialpolitischer Steuerung analysiert. Belastbares Wissen über Migrationswege, über die soziotechnischen Systeme, die Migration ermöglichen, über die Diaspora und über die immer mobileren Arbeitsmärkte, entsteht nicht von allein.

 

Das Interview führte Sybille Nitsche