Medieninformation | 1. Juli 2020 | sn

In der EU verboten, in den USA erlaubt

Die Geschichte des Herbizids Atrazin ist eine Geschichte über den unterschiedlichen Umgang mit Wissen und Nichtwissen

Seit Elena Kunadt die Geschichte des chemischen Unkrautvernichtungsmittels Atrazin in der westdeutschen und US-amerikanischen Landwirtschaft erforscht, beschäftigt sie sich unter anderem mit der Frage, ob die politischen Entscheidungen zur Anwendung dieses Mittels ausschließlich auf gesichertem Wissen basierten. Sie vertritt die These, dass sie auch auf Nichtwissen beruhten und dieses Nichtwissen zu unterschiedlichen Beurteilungen und somit zu unterschiedlichen politischen Entscheidungen führte. „In Deutschland wurde Atrazin, das besonders im Maisanbau eingesetzt wurde, 1991 verboten. 2004 dann in der gesamten EU. In den USA ist es nach wie vor erlaubt“, sagt Elena Kunadt, die am Fachgebiet Technikgeschichte zur Geschichte des Atrazin ihre Doktorarbeit schreibt.

EU-Richtlinie beruhte auf Nichtwissen

Das Verbot des Herbizids Atrazin beruhte auf einer Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft (heute Europäische Union) von 1980. Diese legte fest, dass die zulässigen Pestizidrückstände im Trinkwasser die Konzentration von 0,1 Mikrogramm pro Liter nicht überschreiten dürfen. „Aber nicht etwa das Wissen darüber, dass ein Überschreiten dieser Konzentration für den menschlichen Organismus schädlich ist oder dass Atrazin überhaupt schädlich ist für den Menschen – denn all das ist bislang nicht ausreichend erwiesen – führte zu dem Verbot“, so Elena Kunadt. „Ausschlaggebend war, dass man sich in der EU darauf einigte, dass im Trinkwasser generell keine Rückstände von Herbiziden auftreten dürfen, eben weil man über die schädlichen Auswirkungen auf den Menschen zu wenig beziehungsweise nichts weiß.“ Nichtwissen begründete also die EU-Richtlinie und schließlich das Verbot in Deutschland.

Unschuldig bis zum Beweis der Schuld

Ganz anders in den USA: „Dort führt das Nichtwissen darüber, ob Atrazin schädlich für den Menschen ist oder nicht, nicht zu einem Verbot, sondern zu der Festlegung, dass Atrazin weiterhin eingesetzt werden kann, solange die Schädlichkeit nicht bewiesen ist und der Grenzwert von 3,0 Mikrogramm pro Liter, der also um ein Vielfaches höher ist als der in der EU, im Trinkwasser nicht überschritten wird“, so die Historikerin. Den Grund für diese ganz andere Entscheidung in den USA sieht Elena Kunadt in dem unterschiedlichen Umgang mit Nichtwissen: In der EU wurde unter dem Prinzip der Vorsorge gehandelt und dem Stoff damit eine potentielle Gefahr zugeschrieben. In den USA leitet das Prinzip „Innocent until proven guilty“ den Regulationsprozess, unter dem der Stoff solange als sicher eingestuft wird, bis sich Gesundheitsfolgen unmittelbar nachweisen lassen.

Die Amerikaner führten den Maisanbau ein

Atrazin kam mit dem Maisanbau in die westdeutsche Landwirtschaft. Er wurde mit massiver Unterstützung der Amerikaner nach 1945 eingeführt. Zuvor war in Deutschland praktisch kein Mais angebaut worden. Und so hatten die Bauern auch kaum Erfahrung mit dieser Kulturpflanze.

Hafer wuchs nun schlecht

Ein Problem beim industriellen Maisanbau ist die Unkrautbekämpfung. Es mechanisch beziehungsweise händisch auszureißen war nach dem Krieg sehr arbeitskräfteintensiv, da die Mechanisierung in der Landwirtschaft noch nicht fortgeschritten war und sich auch in Deutschland die Abwanderung aus der Landwirtschaft in die Industrie fortsetzte. So wurde das Unkraut, wie in den USA auch, mit chemischen Unkrautvernichtungsmitteln und schließlich mit Atrazin vernichtet. Bald aber waren die westdeutschen Bauern damit konfrontiert, dass zum Beispiel Hafer, der auf Feldern angebaut wurde, auf denen zuvor Mais stand, schlecht wuchs.

Forschungen erlauben Verständnis heutiger Debatten

Und die Unkräuter entwickelten Resistenzen gegenüber dem Pflanzengift, „was letztlich bei jedem chemischen Unkrautvernichtungsmittel, welches häufig eingesetzt wird, eintritt“, sagt die Wissenschaftlerin. „Die Pflanzenschutzmittelindustrie und Agrarpolitik reagieren, indem sie immer wieder veränderte Wirkstoffe entwickeln und zulassen, die wiederum zu Resistenzen führen. Das Wissen über Resistenzen und Rückstände und das Nichtwissen über Umwelt- und Gesundheitseffekte führten bislang zu keiner Abkehr von dieser Praxis“, resümiert Elena Kunadt. Diesen Umgang mit Wissen und Nichtwissen findet sie aufschlussreich, vor allem um heutige Debatten zum Beispiel um das Für und Wider von Glyphosat zu verstehen, aber auch Entscheidungen bezogen auf den Klimawandel. Die Geschichte des Atrazins zeige wie unter einem Brennglas, welches Nichthandeln beziehungsweise gegensätzliches Handeln Wissen und Nichtwissen hervorbringt.

Kontakt

Elena Kunadt

Fachgebiet Technikgeschichte

elena.kunadt@tu-berlin.de