Prof. Dr. Peter Neubauer leitet das Fachgebiet für Bioverfahrenstechnik der TU Berlin und ist Mitbegründer und Leiter des KIWI-biolabs, einem weltweit führenden Labor für die Entwicklung von Bioprozessen. Für seine Arbeit wurde er jetzt mit dem Agilent Thought Leader Award ausgezeichnet. Im Interview blickt er zurück auf seine Karriere, erzählt von Zukunftsplänen und wie das Preisgeld in Höhe von $1,9 (USD) in weitere internationale Spitzenforschung investiert werden wird.
Herzlichen Glückwunsch zum Preis von Agilent. Was bedeutet er Ihnen?
Ich möchte besonders hervorheben, dass dieser Erfolg nicht allein mein Verdienst ist, sondern das Ergebnis 35-jähriger kontinuierlicher Forschungsarbeiten an verschiedenen Einrichtungen, an der unzählige Studenten, Postdocs wie auch technisches Personal beteiligt waren; aber auch sehr viele Kooperationspartner aus akademischen Laboren und der Industrie. All das Engagement und die harte Arbeit aller hat letztendlich zu dem heutigen Ergebnis beigetragen. Hierfür bin ich jedem einzelnen unendlich dankbar – ich hatte und habe so ein Glück mit so vielen großartigen Personen zusammenzuarbeiten. Dieser sehr renommierte Preis ist für mich und mein Team deshalb von sehr großer Bedeutung. Wir sind Agilent extrem dankbar, dass sie uns dafür ausgewählt haben. Es erfüllt mich mit Freude und einem Gefühl der Demut und Stolz, dass unsere langjährige Arbeit und unser Engagement weltweit sichtbar ist und derart anerkannt wird.
Welchen Schwerpunkt haben Sie bei Ihrer Forschung zu Bioprozessen gelegt?
Während meiner gesamten wissenschaftlichen Laufbahn hat sich unsere Forschung darauf fokussiert, die Entwicklung von Bioprozessen mit analytischen Methoden zu kombinieren, um umfassende Einblicke in die komplexe Dynamik der untersuchten biologischen Systeme zu gewinnen. Dieses Wissen ist eine wichtige Basis für die Etablierung robuster funktionierender Prozesse im Pharmabereich, aber auch im Rahmen der aktuell anvisierten Etablierung einer Bioökonomie.
Das KIWI-biolab ermöglicht weltweit einmalig eine vollständige Digitalisierung und Automatisierung in der bioverfahrenstechnischen Prozessentwicklung. Welche Vorteile bringt das mit sich?
Von vielen anderen Zukunftslaboren unterscheiden wir uns durch die starke und automatisierte Einbindung mathematischer und verfahrenstechnischer Methoden zur Planung, Durchführung und Auswertung der Experimente. Dabei bauen wir auf Kompetenzen auf, für die die prozesswissenschaftliche Fakultät der TU Berlin bekannt ist, wenden diese aber auf einem völlig neuen Gebiet an, nämlich für die Entwicklung moderner Biolabore.
Im KIWI-biolab haben wir über viele Jahre ein voll-automatisiertes Labor entwickelt, in dem durch die Kombination von Robotern zur Zellkultivierung und analytischen Instrumenten zur Charakterisierung der kultivierten Zellen, voll digitalisierten Arbeitsabläufen und mathematischen Modellen komplexe Experimente automatisch geplant, durchgeführt und ausgewertet werden können. Besonders spannend ist, dass durch die ständige kontinuierliche Analyse der Prozesse, diese direkt beeinflusst werden können, um die laufenden Experimente so zu steuern, dass direkt bestimmte Zielkriterien erfüllt werden, wie z.B. eine maximale Produktmenge oder eine bestimmte Qualität des Produktes. Um das alles zu gewährleisten, arbeiten Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen, wie der Mathematik, der Informatik, der Verfahrenstechnik und der Biotechnologie transdisziplinär zusammen.
Welche Auswirkungen hat der Preis auf das KIWI-biolab?
Heutzutage ist experimentelle Spitzenforschung mit extrem teuren Geräten verbunden, insbesondere auch wenn es um Laborautomatisierung geht, und dieser Preis macht es möglich, dass wir bei den internationalen Zukunftslaboren weiterhin eine führende Stelle einnehmen und diese ausbauen können. Ich betrachte den Preis als eine neue große Herausforderung und Motivation, modernste analytische Instrumente für die Flüssigkeitschromatographie und Massenspektrometrie in das automatisierte Labor zu integrieren und damit ein viel tiefergehendes
Verständnis über die untersuchten Systeme zu erhalten. Die Einbindung dieser Geräte und die völlig automatisierte Durchführung der Probennahme und -aufarbeitung, sowie die nachfolgende Analyse und Datenauswertung sind extrem komplex. Da müssen umfangreiche Computerprogramme entwickelt werden, um diese Prozesse, die ja auf verschiedenen Geräten im Labor ablaufen, zu synchronisieren und zu terminieren. Da schon die Analyse einer einzelnen Probe viel Zeit in Anspruch nimmt, bei uns aber viele parallele Experimente stattfinden, müssen wir mit Methoden der künstlichen Intelligenz Routinen entwickeln, die Entscheidungen treffen können, wann und welche Analyse für das jeweilige Experiment am sinnvollsten ist und einen maximalen Erkenntnisgewinn liefert. Diese Fragestellungen und ihre Lösungen sind wissenschaftlich völliges Neuland. Mit diesen Lösungen soll insgesamt die Entwicklung von Bioprozessen zur Produktion neuer Moleküle wesentlich schneller und effizienter ablaufen, was letztendlich zur Einsparung von Ressourcen und Kosten führen kann.
Welche Anschaffungen sind noch geplant?
Der Preis enthält Mittel, mit denen wir zwei in der Analytik erfahrene wissenschaftliche Mitarbeiter*innen einstellen können – was wichtig ist, um die Instrumente zu betreiben und ihre vollen Fähigkeiten in unser Labor zu integrieren.
Zusätzlich hat der Preis noch einen ganz praktischen Einfluss auf unser Labor, wo es im Technikum Fermentationsexperimente gibt, die über mehrere Tage laufen. Um diese zu analysieren, müssen Mitarbeiter*innen, die an diesen Projekten arbeiten, teilweise sehr viele Nachtschichten machen. Mit dem Preisgeld können wir ein Gerät kaufen, dass eine automatisierte Probennahme aus parallelen Bioreaktoren erlaubt, die dann automatisch eingefroren werden, so dass sie später analysiert werden können. Wir planen sogar, diese Proben dann mit einem mobilen Roboter zu transferieren und direkt mit den Agilent Technologien zu analysieren. Damit steigt die Arbeitsqualität und Attraktivität für unsere Mitarbeiter*innen ganz gewaltig. Konkret heißt das: viel weniger bzw. keine Nachtschichten mehr!
Mit welchen Forschungsfragen beschäftigen Sie sich aktuell?
Wir beschäftigen uns damit, wie man automatisierte Versuchsabläufe intelligent integrieren und damit eine Flexibilität erzielen kann, die es erlaubt, in laufende Experimente einzugreifen, um einen maximalen Informationsgehalt zu erzielen. Letztendlich ist es das Ziel, Bioprozesse für neue Produkte wesentlich schneller, mit weniger und vor allem sinnvoll geplanten Experimenten zu entwickeln, was letztendlich zu enormen Kosteneinsparungen führen kann.
Eine wichtige Fragestellung ist immer wieder, in wieweit Ergebnisse aus parallelen Experimenten im sehr kleinen Milliliter-Maßstab in den Prozessmaßstab (bis mehrere hundert Kubikmeter) skaliert werden können. Hierfür entwickeln wir sogenannte Scale-down Szenarien, die ausgehend vom groß-industriellen Maßstab eine Gestaltung relevanter Experimente im Labor erlauben.
Eine weitere spannende Frage ist, wie man agile fahrbare Roboter einsetzen und steuern kann, um feststehende Laborroboter mit speziellen analytischen Großgeräten zu kombinieren, die nicht direkt an den Laborroboter angebaut werden können, sondern woanders lokalisiert sind, das heißt z.B. in Nachbarräumen stehen. Hierbei müssen neue Softwarepakete entwickelt und miteinander verbunden werden. Eine spezielle Herausforderung ist die zeitliche Koordination aller Prozesse und die robuste aber flexible Gestaltung der Abläufe, wobei state-of-the-Art Methoden des Maschinellen Lernens und der Künstlichen Intelligenz helfen.
Für all diese Herausforderungen gibt es bisher weltweit keine Beispiele und erst recht keine komerziellen Lösungen – wir sind hier wirkliche „Thought Leader“.
Sie haben vorhin von der Etablierung einer Bioökonomie gesprochen, die auch von der Bundesregierung angestrebt wird. Welchen Beitrag kann hier das KIWI-biolab leisten?
Am Fachgebiet Bioverfahrenstechnik fokussieren wir uns seit vielen Jahren auf groß-industrielle Prozesse. Im Rahmen der Bioökonomie für Prozesse zur Gewinnung erneuerbaren Energien, für Grundchemikalien oder zur Produktion von Biopolymeren wie Bioplastik spielen Fragestellungen zu den möglichen verfügbaren Substraten eine grundlegende Rolle. Diese kommen normalerweise aus Seiten oder Restströmen von Nebenprodukten der Landwirtschaft oder der Nahrungsmittelindustrie. Diese Reststoffe werden im Bioprozess aufbereitet, zu Zwischenprodukten umgesetzt und dann im selben, oder in einem nachfolgenden Prozess zu den hochwertigen Zielmolekülen umgesetzt. Das sind in unseren Projekten beispielsweise Methan oder längerkettige Kohlenwasserstoffe, Bioplastik oder polyungesättigte Fettsäuren (PUFA). Auch für die Entwicklung dieser Prozesse sind umfangreiche Analysen der Medien und der metabolischen Zwischen- und Endprodukte essenziell. Insbesondere für die Steuerung solcher kontinuierlichen Prozesse und deren Kopplung ist die Implementierung von mathematischen Modellen und die intelligente Durchführung der Analysen absolut notwendig.
Was haben Sie für die Zukunft geplant?
Bisher arbeiten wir hauptsächlich mit mikrobiellen Prozessen. Im Pharmabereich, aber auch z.B. für die Entwicklung von Fleischalternativen, spielen Zellkulturen eine große Rolle. In Zukunft beabsichtigen wir auf Basis unseres derzeitigen Wissens in enger Kooperation mit akademischen und Industriepartnern den Aufbau eines neuen automatisierten Zellkulturlabors, bei dem dann die vielen Dinge, die wir in den letzten Jahren gelernt haben, direkt implementiert werden können.
Zunehmend werden biologische Mischkulturen, also Prozesse, die mehrere verschiedene mikrobielle Organismen enthalten, für neuartige Synthesen diskutiert, speziell auch im Rahmen der bereits diskutierten Bioraffinerie-Konzepte. Hier ist eine Kontrolle der Systeme noch einmal wesentlich komplexer als für Reinkulturen. Hier sehe ich für die Implementierung der im KIWI-biolab entwickelten Methoden eine große Chance.
2019 haben Sie den Verein Netzwerk Bio-PAT gegründet, in dessen Rahmen viele prozessanalytische Methoden entwickelt und publiziert wurden und der die Mitglieder international sichtbar gemacht hat. Können Sie ein für Sie besonderes Beispiel nennen?
Da fällt mir als erstes die Photonendichtewellenspektroskopie der Firma PDW Analytics in Potsdam ein, mit der wir in Kooperation Anwendungen im bioverfahrenstechnischen Bereich entwickeln. Die PDW Spektroskopie ist eine sehr interessante spektroskopische Methode, mit der wir direkt im Prozess mit dem Bakterium Ralstonia eutropha sowohl das Wachstum als auch das synthetisierte Polymer PHA, ein Bioplastik, kontinuierlich messen konnten. Wir entwickeln Prozesse für die industrielle nachhaltige Produktion von Polyhydroxyalkanoate (PHA) auf der Basis von Reststoffen. PHAs stellen eine natürliche Alternative zu synthetischen Kunststoffen dar, werden von Bakterien synthetisiert, sind vollständig zu CO2 und Wasser in der Natur abbaubar, ohne das schädliches Mikroplastik entsteht, und können somit in Zukunft wesentlich zu einer nachhaltigen und biobasierten Kreislaufwirtschaft beitragen. Allerdings sind Messungen direkt im Prozess durch die auf Reststoffen basierten Medien generell schwierig. Die direkte Messung des PHAs in den Fermentationen erleichtert sehr die Prozessentwicklung. Die Publikation dieser Ergebnisse erhielt den Siemens Award for Process Analytics 2020 und zeigt das große Potential neuer prozessanalytischer Methoden.
Von welchem Ereignis in ihrer wissenschaftlichen Karriere werden Sie noch Ihren Enkel*innen erzählen?
Für mich war es ein riesiger Durchbruch, als wir es das erste Mal geschafft haben, im KIWI-biolab innerhalb nur eines Tages in einem einzigen parallelen und voll automatisierten Experiment das Verhalten von Zellen in einem Prozess in einem mathematischen Modell zu beschreiben, d.h. dieses zu parametrisieren. Parametrisierung, also die Parameterindikation in mathematischen Modellen, die zelluläre Systeme beschreiben, ist sehr aufwendig und normalerweise langwierig. Vor 20 Jahren habe ich ca. 1 Jahr und eine Reihe von Experimenten benötigt, um die Parameter von Zellen für einen Prozess zu identifizieren – mit der neuen Methode gelingt uns das mit viel besserer Qualität an einem einzigen Tag. Inzwischen sind wir so weit, dass wir verschiedene Zellen oder Prozesse, die in einer Anlage laufen, sogar gleichzeitig parametrisieren können. Damit haben wir dann sehr schnell einen sogenannten Digitalen Zwilling dieser Zellen, mit dem wir auf dem Computer – und nicht mehr in aufwendigen Laborexperimenten - diverse Untersuchungen durchführen können und damit wesentlich schneller zu neuen Bioprozessen kommen.
Das Interview führte Barbara Halstenberg.