Walter Höllerer - Ein Glücksfall für die Technische Universität Berlin

Walter Höllerer war ein Glücksfall für die Technische Universität und Berlin (West). Ihm gelang, was in der tristen Nachkriegszeit auf ewig verloren schien. Er gab der Dreisektorenstadt das Flair der einstigen Kulturmetropole zurück, indem er 1961/62 eine spektakuläre Lesereihe initiierte: „Literatur im technischen Zeitalter“. In der Kongresshalle lasen nicht nur Ingeborg Bachmann, Heimito von Doderer, John Dos Passos, Henry Miller, Natalie Sarraut, Michel Butor, Salvatore Quasimodo und weitere bedeutende Gegenwartsautoren, sondern – und das war die zweite revolutionäre Tat – der Sender Freies Berlin strahlte diese Kulturhighlights ungekürzt im Fernsehen aus. 

Poesie als Mittel gegen Traumata

Geboren in Sulzbach-Rosenberg in der Oberpfalz, wurde er 1942 nach dem Abitur in Amberg zur Wehrmacht eingezogen. Er erlebte den Krieg in Südeuropa. In Griechenland wurde er Zeuge, wie Zivilisten erschossen wurden. Die Poesie half ihm, diese Traumata zu verarbeiten. Nach 1945 studierte er in Erlangen, Göttingen und Heidelberg erst Theologie, dann Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft.

Wissenschaftliche Meilensteine

1949 promovierte er mit einer Arbeit über Gottfried Keller. Sein erster Gedichtband, „Der andere Gast“, erschien 1952. Dieser zeichnete sich durch einen neuen Lyrikton aus. Seit 1954 gehörte Höllerer zu der legendären „Gruppe 47“. Er blieb der Lyrik und der Literaturwissenschaft treu. 1956 erschien die Anthologie „Transit“. Der Titel verrät Höllerers Absicht, zu Neuem aufzubrechen und Grenzen zu überschreiten. Bald machte er als Universitätsdozent in Frankfurt/Main Theodor W. Adorno Konkurrenz in der Beliebtheit bei den Studierenden. Auch seine Habilitationsschrift „Zwischen Klassik und Moderne“ (1958) wirkte programmatisch. 

Berufung an die Technische Universität Berlin

1959 erfolgte Höllerers Berufung zum Professor für Literaturwissenschaft an die Humanistische Fakultät der Technische Universität Berlin. Seine Antrittsvorlesung „Literatur im technischen Zeitalter“ kündigte einen Paradigmenwechsel an. Moderne Lyrik könne sich nicht von einer vermeintlichen Dämonie der Technik separieren. Im Gegenteil: Die Sprache der Literatur habe sich mit der Alltagssprache und der Sprache des Kalküls, den formalisierten Codes von Naturwissenschaft und Technik auseinanderzusetzen. So begann das „Höllerer-Experiment“, wie Norbert Miller es nannte. Drei wichtige, die Grenzen Berlins weit transzendierende Projekte hat Höllerer initiiert: das TU-Institut „Sprache im technischen Zeitalter“ und die gleichnamige Zeitschrift, die heute noch existiert. Als Drittes kam die schon erwähnte internationale Lesereihe in der Kongresshalle hinzu, aus der 1963 das legendäre „Literarische Colloquium Berlin“ hervorging.

Zuwachs an Popularität

So zogen die Technische Universtität Berlin und die City West das internationale Interesse auf sich. Die junge Generation der 1960er-Jahre war von Höllerer begeistert, nicht nur, weil er sich mit der amerikanischen Lyrik befasste, die durch die Popmusik jener Zeit – etwa Bob Dylan – große Popularität erlangte. Er verstand es meisterhaft, die Medien für die Verbreitung moderner Lyrik, Musik und Kinematografie in den Dienst zu nehmen, ohne sich deren Gesetz zu unterwerfen. Man nannte ihn „Zirkusdirektor“, aber Höllerer ließ nicht die Medienmanager, sondern die Literaten, Musiker und Filmemacher die erste Geige spielen. Heute ist er aktueller denn je. Das zeigen die jährlichen Höllerer-Vorlesungen und das seinem Erbe gewidmete Symposium „Technik und Poetik“ an der Technischen Universität Berlin. Er starb am 20. Mai 2003.