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„Generation Digital“ an der Uni

Der eingeschränkte Studienbetrieb ist für alle Mitglieder der Universität eine Herausforderung. Drei Studierende erzählen, wie sie damit umgehen

Spektroskop zum Selberbauen: Lilli Kiessling, Physik

Physikalische Experimente lassen sich schwer in den eigenen vier Wänden durchführen – oder doch? Not macht erfinderisch, und so gab die TU Berlin ihren Physik-Studierenden für das Grundpraktikum Anleitungen, wie sie Versuche während Corona auch mit Haushaltsgegenständen durchführen konnten: „Wir haben zum Beispiel ein Spektroskop aus Pappe und DVD-Folie gebastelt, mit dem wir das Licht wie in einem Prisma aufspalten  konnten, oder wir haben unser Smartphone mit einer Toilettenpapierrolle an einem Faden befestigt und dann mit dem Handysensor die Schwingperiode gemessen“, sagt Lilli Kiessling, die im zweiten Semester Physik studiert. Das war noch im ersten Lockdown, denn Kiessling hat ihr Studium im Sommerssemester begonnen. Im Juni durften die Studierenden dann auch in kleinen Gruppen ins Labor. „Das war das erste Mal, dass ich die Uni betrat“, sagt die 19-Jährige.

Die Do-it-yourself-Experimente waren für sie jedoch kein schlechter Ersatz: „Ich fand das sehr gelungen und auch viel intuitiver, als wenn man mit einem Hightech-Gerät im Labor arbeitet. Wenn man Dinge selber zusammenbastelt, bekommt man ein viel besseres Verständnis dafür.“ Kiessling schätzt an der TU Berlin, dass der Fokus eher auf dem Verständnis und weniger auf dem „Auswendiglernen“ liege: „Das ist ein cooles Konzept.“ Lilli Kiessling stammt aus Aachen, wo sie auch den Beginn des Studiums verbracht hat, weil es im Sommer kaum Präsenzveranstaltungen gab: „Die ersten zwei Monate habe ich alles von Aachen aus gemacht.“ Als ein Praktikum in Präsenz angeboten wurde, ist sie spontan nach Berlin gezogen, zunächst in ein Wohnheim.

Lilli Kiessling erzählt auch im Video, wie sie die beiden Digitalsemester erlebt hat

Lili Kißling © Felix Noak

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Smalltalk nicht verlernen

Trotz der gelegentlichen Labor-Besuche: Ein Großteil des Studiums findet auch für Lilli Kiessling vor dem Laptop statt. „Man sitzt den ganzen Tag schon sehr viel an einem Platz“, sagt sie. „Das spürt man irgendwann auch körperlich.“ Als Gegenmittel hat sie es sich zur Gewohnheit gemacht, zwischen den Vorlesungen kleine Sporteinlagen zu machen, mal ein paar Liegestütze, mal eine Runde Joggen. „Sport hilft wirklich“, sagt Kiessling. 

Immer nur zu Hause zu sein, sei auch mental belastend: „Man hat nie das Gefühl, man ist fertig, weil man nie aus der Uni raus und nach Hause geht“, sagt sie. In Online-Lerngruppen diskutiert die Physik-Studentin mit anderen Kommiliton*innen über Vorlesungen und Hausaufgaben. Wie wichtig das ist, erfuhr sie im Sommersemester, als sie noch relativ wenige Leute an der Uni kannte: „Ich hatte einen mega schweren Mathe-Kurs und bin total dran verzweifelt, ich hab‘ irgendwann nachts im Traum Formeln gerechnet“, sagt Lilli. Frustriert brach sie den Kurs ab. Als sie sich später mit anderen unterhielt, stellte sie fest, dass auch andere Probleme mit dem Kurs gehabt hatten und es nicht nur an ihr lag. „Ich hatte keinen Vergleich, wie die anderen das machen. Hätte ich das gewusst, hätte ich den Kurs vermutlich nicht abgebrochen.“ Zudem konnte man sich in den Lerngruppen gegenseitig helfen: „Manche Hausaufgaben kann man alleine gar nicht richtig bewältigen“, hat sie festgestellt.

Im Netz hat sie schon einige Kontakte zu Kommiliton*innen knüpfen können. Tatsächlich scheinen sich manche aber schon so an das Online-Studium gewöhnt zu haben, dass sie normalem Smalltalk verlernt haben: Als Lilli und ihre Kommiliton*innen in der zweiten November-Woche zum ersten Mal für ein Tutorium in Präsenz an die Uni durften, standen fast alle vor dem Hörsaal, und schauten auf ihr Handy, ohne sich zu unterhalten. „Ich hab‘ dann gesagt: Hey Leute, wir sind das erste Mal hier zusammen auf dem Campus, wollen wir uns nicht ein bisschen austauschen? Nach und nach haben die anderen dann wirklich angefangen, miteinander zu reden.“ Lilli Kiessling hofft, dass dies bald wieder Normalität wird, denn: „Es macht Spaß, sich über die Studieninhalte zu unterhalten, sonst ist es doch manchmal sehr trocken.“

Auch mal ohne Anlass zum Campus: Noah Grünewald, Informatik

Noah Grünewald freut sich darüber, in Berlin zu studieren: Das Campusleben, die Kultur der Hauptstadt und die Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren, haben ihn angezogen. Corona schränkt dies derzeit jedoch stark ein: „Wenn ich heute über den Campus laufe, begegne ich hauptsächlich Wachmännern, die mich nach dem Ausweis fragen und mich darauf hinweisen, mir die Hände zu desinfizieren“, sagt der 18-jährige Informatikstudent, der für das Studium aus dem bayrischen Bad Kissingen hierhergezogen ist. „Die ganzen Bilder, die man so vom Campusleben im Kopf hat, sind gerade weg.“ Eigentlich müsste es Grünewald leichtfallen, unter Pandemie-Bedingungen zu studieren, denn als Informatik-Student kann er das meiste ohnehin vom Laptop aus erledigen. Tatsächlich schätzt er die Möglichkeiten, seinen Stundenplan selbstständig einzuteilen, die Selbstverantwortung liege ihm. Doch unter all seinen Vorlesungen und Programmierkursen ist nur eine Veranstaltung live, beim Rest handelt es sich um Aufzeichnungen oder frei zu bearbeitende Aufgaben. „Da muss man schon aufpassen, nicht die Struktur zu verlieren“, sagt Grünewald. Wenn jeder Tag gleich aussehe, wachse die Gefahr, die Motivation zu verlieren. „Und natürlich ist zu Hause die Hemmschwelle niedriger, sich nebenbei abzulenken.“

Um nicht den ganzen Tag vor dem Laptop mit Zoom-Konferenzen zu verbringen, empfiehlt Grünewald, regelmäßig in die Uni zu gehen – auch ohne besonderen Anlass. Er selbstversucht, sich einmal pro Woche einen Platz in der Bibliothek zu reservieren, um dort zu lernen. „Sonst sehe ich ja gar nichts vom Campus“, sagt Grünewald. Der Kontakt zu anderen Studierenden und zu den Dozenten fehle ihm: „Man kann halt nicht einfach mal in der Mensa sitzen und mit anderen quatschen.“ Immerhin: Ein gutes Dutzend anderer Kommilitonen hat er dank des Mentoring- Programms von älteren Informatik-Studierenden der TU Berlin schon kennengelernt, die vor dem Lockdown unter anderem eine Campusführung veranstaltet haben. „Wir haben auch eine Online-Lerngruppe gebildet, die sich einmal pro Woche für das Besprechen der Mathevorlesungen trifft“, sagt Grünewald.

Das Zwischenmenschliche fehlt

Wichtig findet er auch die Teilnahme an den Tutorien, vor allem, weil man hier die die Inhalte selber mitgestalten kann. Auch technisch laufe alles gut, lediglich an den ersten Tagen seien die Uni-Server etwas überlastet gewesen. Doch Inhalte seien eben nicht alles: „Zwischenmenschliche Dinge sind auch wichtig für den Lernerfolg“, findet Grünewald. „Wenn ich von meinem Dozenten nur immer den Oberkörper in Zoom sehe, erfahre ich wenig darüber, was er für ein Mensch ist und wie er so tickt.“

Trotz aller Schwierigkeiten freut sich Grünewald, an der TU Berlin zu sein, denn dies war seine Wunsch-Uni. Er kommt aus einer Familie von Informatikern und Technikern, sein älterer Bruder hat an der TU Berlin ein Wirtschaftsinformatikstudium abgeschlossen. Dadurch hat Grünewald schon mal einen potenziellen Platz zum Schlafen in der Stadt. Derzeit wohnt er bis Dezember zur Zwischenmiete in einer WG, schon seit Wochen sucht er nach einer langfristigen Bleibe, bislang vergeblich. „Man wird wegen Corona ja auch nicht mehr in WGs eingeladen, das passiert auch alles online“, sagt Grünewald. Zwischendurch wieder in die Heimat zu fahren, und von dort aus online weiter zu studieren, wie es manch andere Kommilitonen machen, ist für ihn keine Option. Grünewald glaubt aber, dass die Abbrecherquoten hoch sein werden, wenn die jetzige Situation bis zum Frühjahr andauert. „Ich hoffe, dass die Uni möglichst bald wieder Erstsemester auf den Campus holen kann.“

Modelle bauen ohne Ablenkung: Friedrich Zeno Kujus, Architektur

Schreibtisch statt Werkstatt: Architektur ist zwar ein sehr praktischer Studiengang, doch findet dieser für Friedrich Zeno Kujus derzeit – wie bei allen anderen auch – fast ausschließlich online statt. „Normalerweise würden wir jetzt mit 20 Leuten in Werkstätten und Entwurfsstudios stehen“, sagt der 22-jährige Erstsemester, der bereits eine zweijährige Ausbildung zum Zimmermann und ein Gesellenjahr in Norwegen absolviert hat. Jetzt verlagert sich alles nach Hause, wo er Raumkonzepte entwirft und Modelle aus Leim und Holzpappe baut. Links auf seinem Tisch liegt die Mappe mit den Modellen, rechts steht der Laptop, über den die Vorlesungen flimmern.

Bis es in die großen Werkstätten geht, dauert es noch: Da aufgrund der Hygienebestimmungen nur eine kleine Anzahl an Studierenden gleichzeitig anwesend sein darf, findet die Werkstatteinführung für Erstsemester gestaffelt statt und zieht sich dadurch nach hinten. Friedrich Kujus’ Einführung ist erst am 12. Dezember. Dennoch ist er entspannt, denn durch seine Ausbildung kennt er viele der Maschinen schon. Auch die acht Wochen Praktikum auf der Baustelle, die für alle Architekturstudierenden an der TU Berlin Pflicht sind, fallen dadurch für ihn weg. Seine Kommilitonen können sich mit den Praktika noch bis nach der Pandemie Zeit lassen, sie müssen erst im Laufe des Studiums absolviert werden.

Kujus stammt aus Brandenburg und wohnt derzeit bei seinem Vater in Berlin. Bisher musste er nur zweimal an den Campus, unter anderem für eine Einführungsveranstaltung, die noch vor dem Lockdown stattfand. Seitdem fangen viele Uni-Tage bei ihm so an: „Ich stehe morgens auf, mache mir einen Kaffee und um 10 Uhr geht dann die erste Vorlesung am Laptop los“, sagt Kujus.

Kontakte knüpfen im Netz

Auch Kontakte knüpfen funktioniere gut im Netz: Über einen Youtube-Livestream hatten sich im Handumdrehen viele Kommilitonen zusammengefunden und Messenger-Gruppen gegründet, die schnell 100 Mitglieder hatten. „Man entdeckt sofort Kommilitonen mit gemeinsamen Interessen“, sagt Kujus. „Es sind schon viele coole Leute dabei.“ Dazu kommen weitere Lerngruppenchats, mit den Fachschaftsräten kann man über Teamspeak-Plattformen wie Discord kommunizieren. Sogar eine „Zoom-Bar“ gab es zum Semesterstart: Der Fachschaftsrat hatte rund 120 Erstsemester zum Online-Meeting eingeladen, bei dem jeder Fragen stellen und dabei sein eigenes Getränk genießen konnte.

„Es gibt jetzt einfach eine ganz andere Art und Weise, sich auszutauschen“, sagt Kujus. „Der digitale Campus ist für Studienanfänger zu Corona-Zeiten selbstverständlich.“ Natürlich sei das kein vollwertiger Ersatz für analoge Kontakte, aber Friedrich Kujus will sich deswegen nicht stressen, er kann dem Online-Studium durchaus Positives abgewinnen: „Man spart zum Beispiel Fahrtzeiten, kann sich zu Hause nebenbei etwas zu essen machen, der Stundenplan wird flexibel.“ In gewisser Weise wird das Lernen sogar vereinfacht: Vorlesungen sind teilweise frei abrufbar, man kann pausieren und sie wiederholen, Hausaufgaben werden per Mausklick hochgeladen, und man kann sich seine Zeitfastkomplett frei einteilen. Das selbstständige Lernen eröffnet ganz neue Perspektiven“, sagt Kujus. „Ich würde mir wünschen, dass die TU Berlin diese digitalen Möglichkeiten auch nachdem Lockdown weiterentwickelt.“

Originalpublikation

Der Text ist am 29. November 2020 in der Sonderbeilage der TU Berlin im Der Tagesspiegel erschienen.

Autor: Erik Wenk