Was ist eigentlich schmecken? Wie wird es erlebt? Wer wäre besser geeignet, diese Frage zu beantworten, als die Schmeckenden selbst und zwar genau da, wo das Schmecken stattfindet, in verschiedensten Situationen des Alltags? „Um an diese Expertise heranzukommen“, sagt Prof. Dr. Jan-Peter Voß, „brauchen wir einen Ansatz der Citizen Science, bei dem Profi- und Amateurforscherinnen zusammenarbeiten“.
Zusammen mit Prof. Dr. Nina Langen leitet er das „Schmeck!-Projekt“, dessen Ziel es ist, zu erforschen, wie schmecken stattfindet und wie es sich verändern kann. Gemeinsam mit 20 Amateurforscherinnen stellten sie sich zuerst der Aufgabe, ihr eigenes Schmecken in einer selbstgewählten Situation zu beobachten und zu beschreiben. „Diese Selbstbeschreibungen des Schmeckens nennen wir Auto-Gustografien“, sagt Jan-Peter Voß. „Und dabei fiel uns etwas auf: Niemand hatte sich darauf beschränkt, das Schmeck-Erlebnis allein als süß, salzig, sauer und so weiter zu beschreiben. Vielmehr tauchten so unterschiedliche Dinge auf wie gesundheitliche Sorgen, Verhaltensunsicherheiten beim Besuch eines Fine-Dining-Restaurants, Erinnerung an den Garten der Oma, das Knacken beim Kauen, Beschreibungen der Atmosphäre oder Reflexionen dazu, ob es noch angebracht ist, Fleisch zu essen.“ In einem engen physiologischen Konzept des Schmeckens haben solche Wahrnehmungen keinen Platz. Aber wenn Menschen frei darin sind, zu beschreiben, wie sie das Schmecken erleben, kristallisieren sie sich als relevante Elemente heraus.
Aus der Analyse dieser auto-gustografischen Berichte entwickelte das Schmeck-Team vier Kategorien, die – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Kombination – zentral zu sein scheinen: Sensorik, Praxis, Assoziationen und Umgebung. Das Team folgert daraus, dass es nicht allein die Speise ist, die schmeckt oder der Mensch, sondern dass es die Situation ist, die schmeckt. Und die ist durch das Zusammenspiel ganz verschiedener Elemente bestimmt. Als wirkliches Erleben im Alltag ist das Schmecken somit vielkomplexer als die Reizung von Geschmacksrezeptoren der Zunge.
Daraus resultiert auch eine besondere Fragilität des Schmeckens. Sobald sich ein Element in der Schmeck-Situation ändert, verändert sich auch das Erleben. „Schmecken“, sagt Jan-Peter Voß, Leiter des Fachgebiets Politik- und Governancesoziologie, „ist das Ergebnis von Wechselwirkungen. Es ist wie ein Ökosystem. Jedes Element, zum Beispiel die Musik beim Abendessen im Restaurant, bedingt die Wahrnehmung, und wenn sie plötzlich von Klassik zu Heavy Metal wechselt, organisiert sich die Wahrnehmung des Schmeckens neu.“ Damit entzieht es sich der Erforschung unter standardisierten Laborbedingungen. Es eröffnen sich jedoch Möglichkeiten zur Veränderung. Das ist der Gegenstand der zweiten Phase des Projekts, in der Amateur- und Profiforscherinnen Experimente dazu entwickeln, wie sich Schmecken gestalten lässt.
Der Text ist am 29. November 2020 in der Sonderbeilage der TU Berlin im Der Tagesspiegel erschienen.
Autorin: Sybille Nitsche