„Wir bleiben noch lange von fossilen Energien abhängig“

Welche Optionen hat Deutschland, sich mit Gas zu versorgen, bis umweltgerechte Lösungen realisiert sind?

Die Situation ist ernst – das ist klar, seit der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine Ende März die Frühwarnstufe des Erdgasnotfallplans ausgerufen und zum Energiesparen aufgefordert hat. Bislang lieferte Russland mehr als die Hälfte der deutschen Erdgasimporte über Pipelines. Nun jedoch wird sogar die Rückkehr zur Braunkohle diskutiert, ebenso wie eine mögliche Aufrechterhaltung von Atomkraft oder eine nie dagewesene Beschleunigung von Genehmigung und Bau von LNG- bzw. Flüssiggas-Terminals sowie der dazugehörigen Pipelines vor der deutschen Küste und an Land. Denn die vollständige Energieversorgung aus den Erneuerbaren liegt noch in weiter Ferne. Wie kann Deutschland sich bis dahin selbst mit ausreichend Gas versorgen?

„Die heimische Produktion von Erdgas liegt gerade einmal bei sechs Prozent des Bedarfs“, sagt Prof. Dr. Oliver Weidlich vom Institut für Angewandte Geowissenschaften der TU Berlin, Fachgebiet Ingenieurgeologie, „und der Füllstand des größten deutschen Erdgasspeichers Rehden in Niedersachsen, südlich von Bremen, liegt derzeit signifikant unter zehn Prozent. Er wird von der Astora betrieben. Auch die weiteren deutschen Gasspeicher – einer liegt nahe Berlin in Rüdersdorf – sind nicht gefüllt, wie sie sollten.“ Das habe sowohl politische als auch technische Gründe. Das sibirische Gas werde über vier Pipelines geliefert, unter anderem Jamal und Nord Stream 1, die mit maximaler Auslastung Gas lieferten. Denn es sei ein schwieriges Tauziehen: Weder kann Deutschland derzeit auf das russische Gas verzichten, noch Russland auf die Gas-Rubel.

„Die Energy-Transition, weg von fossilen Rohstoffen hin zu alternativen Energiequellen und umweltfreundlichem Wasserstoff, ist ein Muss. Das haben die IPCC-Berichte wiederholt ganz klar gezeigt“, so Weidlich. „Nur kann man die Produktion von Gas und Öl nicht ein- und ausschalten wie Licht. Das ist technisch sehr komplex und daher langwierig. Mögliche andere Lieferanten, inklusive der USA, zögern nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, ihre Produktion während einer Hochpreisphase – derzeit ausgelöst durch den Krieg – hochzufahren. Denn wenn der Preis danach wieder fällt, sind sie selbst vom Bankrott bedroht.“

Auch wenn Niedersachsen als wichtigste deutsche Gasförderer noch 2020 rund 5,3 Milliarden Kubikmeter Rohgas gefördert hat, sind die natürlichen Gasvorkommen in Deutschland recht mager. Völkersen in Niedersachsen, eine der größten Lagerstätten, sei zu 80 Prozent ausgefördert, so Weidlich. Der Geologe erklärt: „In den Lagerstätten muss grundsätzlich eine erhebliche Menge zurückbleiben, die nicht förderbar ist. Und wenn der Druck fällt, setzt sich der Gesteinskörper, es kommt zu Erdbeben – was rund um Völkersen, übrigens auch um Groningen in den Niederlanden bereits häufig vorkam.“ In den anderen deutschen Kerngebieten, dem Oberrheingraben, Mecklenburg-Vorpommern und dem Molasse-Gebiet nördlich der Alpen, sind ebenfalls nur Restmengen vorhanden, und es fehlt manchmal an moderner Infrastruktur. „Allerdings wären diese Gasmengen auch nicht ausreichend, um zur Überbrückung zum Beispiel die Stahl-, Zement- oder Chemieindustrie, die besonders betroffen sind, mit Energie zu versorgen. Es ist für uns lediglich ein Plus, ein ‚Nice-to-have‘.“ Wohnungs- und Industriebau, Lebensmittel- und Medizinherstellung – wie eine Dominosteinreihe würde die gesamte Wertschöpfungskette zusammenbrechen.

Nach wie vor sei Norwegen die zweitwichtigste Bezugsquelle für Gas, gefolgt von den Niederlanden. Um das russische Gas zu ersetzen, bedarf es aber in beiden Fällen eines entsprechenden Infrastrukturausbaues: seien es die LNG-Terminals für Flüssiggas in der Nordsee oder Pipelines, die Flüssiggas von den LNG-Terminals an der Atlantikküste nach Deutschland leiten. Auch Nordafrika, das allerdings nur wenig leistungsfähige Pipelines besitze, Ägypten und das östliche Mittelmeer verfügten über größere Vorkommen.

„Das größte Gasfeld der Welt, ‚North Field‘, liegt in Katar, mit dem Robert Habeck jetzt auch in Verhandlungen eingetreten ist, und teils im Iran“, erklärt Oliver Weidlich, der durch Projekte weltweit und besonders im Mittleren Osten umfangreiche Erfahrungen hat.

„Obwohl die Energietransformation hin zu den Erneuerbaren ein Muss ist, wenn wir das 1,5 Grad-Ziel erreichen wollen, werden wir noch lange von fossilen Rohstoffen abhängig bleiben“, zieht der Geowissenschaftler ein Fazit. „Auf erneuerbare Energie können wir so schnell gar nicht umstellen, wenn wir die Menschen in unserem Land mitnehmen wollen.“ Er plädiert daher dafür, CDR(Carbon Dioxide Removal)- und CCS(Carbon Capture and Storage)-Technologien wieder verstärkt in den Blick zu nehmen: „Das Herausfiltern und Verflüssigen von CO2 direkt aus Industrieabgasen sowie das sichere Verpressen in unterirdischem, porösem Gestein beispielsweise in der Nordsee, sind für mich als Geologen anspruchsvolle, aber machbare Lösungen.“ Es biete den Industrien, die viel CO2 produzieren, wie der Zementherstellung, interessante Möglichkeiten, das anfallende CO2 für weitere Nutzungen oder zur Entsorgung abzuscheiden. „Ich bin zuversichtlich, dass wir hier zusammen mit einer wachsamen, kritischen Öffentlichkeit zu einer realistischen Einschätzung von Sinnhaftigkeit, Machbarkeit und Risiken kommen können.“

Autorin: Patricia Pätzold