„Jeder Neubau muss durch Entsiegelung eines Parkplatzes kompensiert werden“

Prof. Eike Roswag-Klinge über die Dringlichkeit einer Bauwende und die Unzufriedenheit mit einer Stadtentwicklungspolitik, die Forschung und Zivilgesellschaft ausschließt

Die Forderung nach einer Gesamtstrategie für eine klimagerechte und soziale Stadtentwicklungspolitik und die Unzufriedenheit mit baupolitischen Maßnahmen der Berliner Regierung eint das Bündnis „Klimastadt Berlin 2030“. Es ist ein Bündnis von Berliner Initiativen, Umwelt- und Mietverbänden sowie Planenden und Bauenden, dem sich auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts für Architektur der TU Berlin angeschlossen haben. Vor dem Hintergrund der Wiederholungswahl am 12. Februar 2023 in Berlin ist das Bündnis mit einem sieben Themenfelder umfassenden Eckpunktepapier an die Öffentlichkeit gegangen. TU-Professor Eike Roswag-Klinge, Leiter des Natural Building Lab, hat an dem Eckpunktepapier mitgeschrieben.

Herr Prof. Roswag-Klinge, in Deutschlands Großstädten und Ballungsgebieten fehlt es an hunderttausenden bezahlbaren Wohnungen. Mehr Wohnungen bedeuten jedoch mehr versiegelte Flächen und weniger Grün. Es ist das Gegenteil dessen, was notwendig ist, um Großstädte gegen Hitzewellen zu wappnen. Um das Dilemma zu lösen, will Berlins Bausenator höher bauen und verdichten, um Grün- und Freiflächen zu erhalten. Eine Forderung Ihres Bündnisses ist eine Netto-Null-Versiegelung. Also höher zu bauen – eine kluge Entscheidung im Sinne der Initiative Klimastadt Berlin 2030?

Auf jeden Fall. Es muss versucht werden, so wenig wie möglich neu zubauen. Das ist möglich, in dem zum einen der Flächenverbrauch reduziert wird. Das heißt, dass die gegenwärtigen 50 Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf auf 40 Quadratmeter reduziert werden müssen. Zum anderen muss der Wohnungsbestand genutzt werden, um neuen Wohnraum zu schaffen: Bestehende Häuser werden aufgestockt. Da hat Berlin noch viel Potenzial. Wir haben in Berlin zudem brachliegende Bahn- und Industrieflächen, wo nachverdichtet werden kann. Es gibt also genügend Flächen, die erschlossen sind. Aber natürlich wird es in einer Stadt wie Berlin nicht vermeidbar sein, neu zu bauen. Aber wenn ein Haus auf eine unversiegelte, grüne Fläche gesetzt wird, dann müssen zum Ausgleich auch versiegelte Flächen wie zum Beispiel Parkplätze entsiegelt werden. An der Netto-Null-Versiegelung führt kein Weg vorbei.

Im Parteiprogramm einer Partei heißt es: „Die Verkehrsprobleme unserer Stadt lassen sich nicht lösen, indem Verkehrsträger gegeneinander ausgespielt werden. Unsere Stadt bietet genügend Platz für gute Rad- und Fußwege, freie Straßen und ein breites Angebot an öffentlichem Personennahverkehr.“ Zitatende. Widerspricht diese Aussage der Forderung Ihrer Initiative „Priorisierung eines attraktiven und leistbaren ÖPNV als Alternative zum Pkw“ oder gehen Sie mit dieser Einschätzung mit?

Wenn Berlin 2030 klimaneutral sein soll, dann sollten wir uns den Blick von dem gegenwärtig politisch Machbaren nicht verstellen lassen. Und ich will auch gar nicht den Radverkehr gegen den Autoverkehr ausspielen. Das ist gar nicht mein Punkt. Hinsichtlich der Transformation des Verkehrs müssen wir viel radikaler denken, als wir uns das gegenwärtig vorstellen können. Die Zeiten des privaten Autoverkehrs sind vorbei. Was in Angriff genommen werden muss, ist ein flächendeckender ÖPNV weit über den S-Bahn-Ring hinaus ins Brandenburgische, der es den Menschen auch zeitlich unkompliziert ermöglicht, mit dem ÖPNV zur Arbeit zu kommen. Wir brauchen innerhalb Berlins schnelle Radwege, auf denen mit dem E-Bike 20 bis 30 Kilometer lange Arbeitswege komfortabel zurückgelegt werden können. Also um Städte wie Berlin klimaneutral umzubauen, müssen Mobilitätskonzepte angeboten werden, in deren Mittelpunkt nicht mehr das private Auto steht. Das würde viele Flächen freisetzen, die bislang von parkenden Autos, dem sogenannten ruhenden Verkehr, okkupiert werden. Versiegelte Straßenflächen könnten zu Versickerungsflächen umgestaltet werden.

Was meinen Sie mit radikal denken?

Für viele Menschen hat es heute überhaupt keinen Sinn mehr, viel Geld in ein privates Auto zu investieren. An das Freiheitsversprechen des Individualverkehrs der 50er-Jahre, als freier Bürger über eine freie Autobahn zu rauschen glaubt ja kein Mensch mehr. Die Leute sitzen viel eher im Stau und sind gestresst. Das Gemeinwesen hat über Jahrzehnte das Auto subventioniert und die Folgen getragen, zum Beispiel in Städten zu leben, deren Luft von Feinstaub verpestet wurde. Meine Beobachtung ist, dass die Menschen längst erkannt haben, dass wir andere Mobilitätskonzepte jenseits des privaten Autos brauchen und von der Politik diesen Mobilitätswandel erwarten. Ich finde es schade, dass dieser Veränderungswille in der Bevölkerung nicht mit politischem Handeln unterstützt wird, sondern politische Gruppierungen rückwärtsgewandt dagegenhalten.

Ihre Initiative fordert, das Amt der Bausenatorin in das Amt einer Umbausenatorin umzuwandeln. Worin würden sich die Aufgaben einer Umbausenatorin von den Aufgaben einer Bausenatorin unterscheiden?

Diese Forderung ist eine klare politische Kritik. Wir haben unter der jetzigen Senatsbauverwaltung eine stark über den Errichtungskosten ausgerichtete Politik. Ökologische Fragen werden hintenangestellt. Was uns als Initiative ebenfalls stört, ist, dass wieder sehr stark auf Investoren gesetzt wird und Hochhäuser gebaut werden, die nicht in eine Zeit passen, in der es um den klimaresilienten Umbau der Städte gehen muss.

Und wir sehen mit Sorge, dass die Senatsbauverwaltung aus einer in Berlin über 20 Jahre entwickelten kollaborativen Stadtentwicklung aussteigen will und entsprechende Initiativen zurückdrängt. Der Streit um die Bebauung des Molkenmarktes zeigt das eindrücklich. Vom Institut für Architektur der TU Berlin mit der städtischen Zivilgesellschaft entwickelte transdisziplinäre Forschungsvorhaben werden einfach vom Tisch gefegt. Bei der Stadtentwicklung scheint die Berliner Politik voll und ganz auf den privaten Investor zu setzen. Was Berlin braucht, sind aber ganz andere politische Leitplanken.

Welche?

Berlin muss wieder die Reformstadt werden, für die Berlin bezüglich des Bauens und der Stadtentwicklung einmal stand. Wir müssen den Prozess, in dem Stadtentwicklung, Forschung und zivilgesellschaftliche Teilhabe verknüpft werden, wieder aufnehmen und fortsetzen. Dafür steht auch das TU-Institut für Architektur und diese Denk- und Herangehensweise sehen wir gerade durch die aktuelle Politik stark gefährdet.

Wo liegt Ihrer Meinung nach bislang das größte Versagen beim Umbau Berlins zu einer klimaresilienten Stadt?

Der Bausektor ist neben dem Verkehrssektor der große CO2-Emittent. Er hat überhaupt noch nicht begonnen, sich zu dekarbonisieren. Wir bauen immer noch mit falschen Materialien – Beton, Stahl, Glas – und wir bauen immer noch zu viel.

Und wo sehen Sie bezüglich des Umbaus das drängendste Problem?

Wir brauchen eine Bauwende und dieser große Shift muss im Bestand passieren – also Aufstockung der Häuser, Dämmung, Begrünung von Fassaden, Dächern und Verkehrsflächen, Reduzierung der Wohnfläche pro Kopf. Neugebaut werden darf nur noch in ganz begründeten Fällen und jeder Neubau muss das 1,5-Grad-Ziel einhalten und nicht vermeidbare Versiegelung muss mit der Entsiegelung einer anderen Fläche kompensiert werden. Alles Wissen, was seit Jahrzehnten vorhanden ist.

Das Interview führte Sybille Nitsche.

Kontakt

Prof.

Eike Roswag-Klinge

roswag-klinge@tu-berlin.de

Einrichtung Natural Building Lab