Die Toten waren nicht das Unerträglichste

Seit Kriegsbeginn unterstützt TU-Student Thomas Humphrey die Menschen in der Ukraine – schafft medizinische Hilfsgüter ins Land, bringt Flüchtlinge nach Berlin, organisiert Generatoren und hilft bei der Evakuierung schwer kranker Kinder.

Zerborstene Fenster, zerschossene Eingangstür, in den Wänden klaffende Löcher, sodass man von drinnen in den Garten schauen kann. Die Spuren der Verwüstung durch russische Soldaten sind im Haus von Familie Pirnach, die nach dem Überfall Putins im Februar 2022 auf die Ukraine aus ihrer Heimatstadt Irpin vor der russischen Armee nach Kiew geflohen und im April 2022 zurückgekehrt war, noch sichtbar. Dennoch hat sie im Sommer 2023 zu einem Essen eingeladen. Die Stimmung ist geprägt von Erleichterung: nach Wochen der Flucht wieder im eigenen Haus, der jüngste Sohn in Chicago in Sicherheit und die ganze Familie am Leben. Zumindest bis jetzt. Unter ihnen ist Thomas Humphrey, 27 Jahre alt, Student der Chemie an der TU Berlin. Er hatte den jüngsten Sohn der Pirnachs im November 2022 über seine ehrenamtliche Arbeit bei der deutschen Hilfsorganisation „Be an Angel“ kennengelernt.

Doch angefangen hat alles mit „Onward Aid“. Noch bevor der Ukraine-Krieg ausbrach, gründete Thomas Humphrey im Februar 2022 seine eigene kleine Wohltätigkeitsorganisation „Onward Aid“ und begann, Geld zu sammeln und Medikamente zu kaufen. „Ich war mir sicher, dass Putin die Ukraine überfallen wird. 300.000 Soldaten lässt man ja nicht zum Spaß an einer Grenze aufmarschieren“, sagt der Eins-neunzig-Mann mit dem amerikanischen Akzent, der unter anderem in den USA und in Deutschland aufwuchs.

Elf Tage nach Kriegsbeginn, also am 4. März 2022, konnte er deshalb schon seine erste Fahrt mit Hilfsgütern starten. In einem geliehenen Kleinbus zusammen mit zwei Freunden machte er sich auf den Weg Richtung Lwiw. Der Laderaum war voll mit Insulin, Equipment für Infusionen und Verbandsmaterial. Je mehr sie sich dem polnisch-ukrainischen Grenzübergang KorczowaKrakowez näherten, um so voller wurde die Straße in die Gegenrichtung – Tausende Autos Stoßstange an Stoßstange nur mit einem Ziel: raus aus der Ukraine. Die Straße Richtung Ukraine war leer. Nach 20 Stunden erreichten sie Lwiw.

 

Sie nahm weder Essen noch Trinken

Über eine ukrainische Studentin in Berlin hatte er Verbindung zu einem Krankenhaus aufgenommen, dem er nun seine Lieferung übergab. Auf dem Rückweg wollte er Geflüchtete mit nach Berlin nehmen. Aber erst in Polen bekam er über das Malteser Hilfswerk Kontakt zu Geflüchteten. In einer Schule, in der Frauen und Kinder untergebracht waren, bewacht von polnischen Soldaten, wurde ihnen eine Frau mit zwei Kindern, Oma und Katze vermittelt. Bevor sie sie mit nach Berlin nehmen konnten, befragten polnische Armeeangehörige und Polizei Thomas Humphrey zwei Stunden lang.

Das diente dem Schutz der Frauen, um auszuschließen, dass sie verschleppt werden und in Bordellen landen.Thomas Humphrey erzählt, dass die Frau auf der zwölfstündigen Fahrt nach Berlin nicht schlief und für ihre Kinder und sich auch kein Essen und Trinken annahm. Als er ihr in Berlin den Schlüssel für eine Wohnung übergab, begann sie hemmungslos zu weinen.

Eine der Hilfslieferungen seiner Organisation „Onward Aid“ führte ihn in die Irpin-Region, nachdem die Russen im April 2022 dort das Feld räumen mussten. In einem Video hielt er fest, was er auf der Europastraße E 40 sah: zusammengeschossenes Kriegsgerät, kaputte Traktoren, zerstörte Häuser – und Leichen. Mitten auf der Fahrbahn, neben ausgebrannten Autos. Leichen zusammengekrümmt mit dem Gesicht zum Boden.

Unvereinbare Lebenswelten

Die Toten seien jedoch nicht das Unerträglichste für ihn gewesen. An die Grenzen dessen, was er ertragen konnte, brachten ihn die Schilderungen von Kindern, die die russischen Soldaten entführt hatten. In den Arbeitsräumen von Irina Suslowa in Kiew, der Ombudsfrau für Kinderrechte in der ukrainischen Regierung, wurde er Zeuge, wie ein Junge einer Psychologin erzählte, dass er von russischen Soldaten geschlagen worden war. Der Junge war gegen gefangene russische Soldaten ausgetauscht worden.

Und dann sei da noch dieses Doppelleben gewesen, das er über Monate führte. „Zwischen einem Leben in Deutschland zu pendeln, wo ein defekter Drucker im Büro zum alles bestimmenden Problem wurde, Kolleg*innen und Freund*innen nicht glaubten, dass russische Soldaten ukrainische Frauen vergewaltigen, und einem Leben, wo ich des Nachts nur 20 Kilometer von der Frontlinie in Bachmut entfernt unter Beschuss geriet und ich mich nicht mehr damit beruhigen konnte, dass ich eine Mission erfülle, sondern pure Angst hatte, dass ich jetzt sterben könnte – diese unvereinbaren Welten entfremdeten mich eine Zeit lang von meinen Freund*innen“, erzählt er und schweigt für einen langen Moment.

Von März bis Oktober 2022 brachte er über „Onward Aid“ medizinische Hilfsgüter im Wert von 63.000 Euro in die Ukraine. Seine Kollegen Dr. Stephan Kohl, Dr. Hendrik Klare und Dr. Lars Merkel vom TU-Institut für Chemie halfen, Desinfektionsmittel, Spritzen und Kanülen zu beschaffen und unterstützten ihn bei der Organisation.

Dann ging ihm das Geld aus. Doch er wollte weiter helfen und nahm deshalb Kontakt zu „Be an Angel“ auf. Zuerst arbeitete er für die deutsche NGO als Lagerarbeiter in Lwiw und ab Oktober 2022 als Evakuierungshelfer in Mykolajiw. Die Stadt liegt circa 130 Kilometer östlich von Odesa und war Wochen unter heftigem russischem Beschuss. „‚Be an Angel‘ bringt die Menschen mit Bussen in Moldaus Hauptstadt Chișinău und von dort nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Ich erlebte, wie Männer im wehrpflichtigen Alter sich von ihren Frauen, Töchtern und Müttern verabschieden mussten. Die Männer mussten bleiben. Es war jedes Mal eine Tragödie“, sagt Thomas Humphrey. Bislang hat die Organisation nach eigenen Aussagen über 18.000 Menschen in Sicherheit gebracht.

Zur Behandlung in die USA und die EU

Später leitete er als Programmmanager bei der amerikanischen Tochterorganisation „Friends of Be an Angel“ die Beschaffung von 1715 Generatoren im Wert von 2,27 Millionen Euro für Krankenhäuser, Wärmestationen, Flüchtlingszentren, religiöse Einrichtungen, Waisenhäuser und Schulen. Und er war an der Evakuierung von 23 an spinaler Muskelatrophie erkrankten Säuglingen beteiligt, ebenfalls von „Friends of Be an Angel“ organisiert. Sie wurden zur Behandlung in die Vereinigten Staaten und die Europäische Union ausgeflogen, weil es in der Ukraine keine Möglichkeit gibt, sie zu behandeln, und sie ohne diese Hilfe unweigerlich gestorben wären.

Ob er durch sein Engagement, bei dem er so sehr mit Leben und Tod konfrontiert ist, das erste Mal so etwas wie Sinn im Leben sehe und er deshalb helfe? „Nein“, sagt er, „in meinem Chemiestudium sehe ich auch Sinn, nämlich etwas gegen den Klimawandel tun zu können. Aber, das musste ich schmerzlich lernen: Wir werden gegen den Klimawandel nichts ausrichten, wenn wir unser Wirtschaftssystem, das auf unaufhörlichem Wachstum beruht, nicht ändern. Bei meiner Arbeit in den Hilfsorganisationen dagegen spüre und sehe ich, dass mein Tun unmittelbar etwas bewirkt.“

Autorin: Sybille Nitsche