Die Toten seien jedoch nicht das Unerträglichste für ihn gewesen. An die Grenzen dessen, was er ertragen konnte, brachten ihn die Schilderungen von Kindern, die die russischen Soldaten entführt hatten. In den Arbeitsräumen von Irina Suslowa in Kiew, der Ombudsfrau für Kinderrechte in der ukrainischen Regierung, wurde er Zeuge, wie ein Junge einer Psychologin erzählte, dass er von russischen Soldaten geschlagen worden war. Der Junge war gegen gefangene russische Soldaten ausgetauscht worden.
Und dann sei da noch dieses Doppelleben gewesen, das er über Monate führte. „Zwischen einem Leben in Deutschland zu pendeln, wo ein defekter Drucker im Büro zum alles bestimmenden Problem wurde, Kolleg*innen und Freund*innen nicht glaubten, dass russische Soldaten ukrainische Frauen vergewaltigen, und einem Leben, wo ich des Nachts nur 20 Kilometer von der Frontlinie in Bachmut entfernt unter Beschuss geriet und ich mich nicht mehr damit beruhigen konnte, dass ich eine Mission erfülle, sondern pure Angst hatte, dass ich jetzt sterben könnte – diese unvereinbaren Welten entfremdeten mich eine Zeit lang von meinen Freund*innen“, erzählt er und schweigt für einen langen Moment.
Von März bis Oktober 2022 brachte er über „Onward Aid“ medizinische Hilfsgüter im Wert von 63.000 Euro in die Ukraine. Seine Kollegen Dr. Stephan Kohl, Dr. Hendrik Klare und Dr. Lars Merkel vom TU-Institut für Chemie halfen, Desinfektionsmittel, Spritzen und Kanülen zu beschaffen und unterstützten ihn bei der Organisation.
Dann ging ihm das Geld aus. Doch er wollte weiter helfen und nahm deshalb Kontakt zu „Be an Angel“ auf. Zuerst arbeitete er für die deutsche NGO als Lagerarbeiter in Lwiw und ab Oktober 2022 als Evakuierungshelfer in Mykolajiw. Die Stadt liegt circa 130 Kilometer östlich von Odesa und war Wochen unter heftigem russischem Beschuss. „‚Be an Angel‘ bringt die Menschen mit Bussen in Moldaus Hauptstadt Chișinău und von dort nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz. Ich erlebte, wie Männer im wehrpflichtigen Alter sich von ihren Frauen, Töchtern und Müttern verabschieden mussten. Die Männer mussten bleiben. Es war jedes Mal eine Tragödie“, sagt Thomas Humphrey. Bislang hat die Organisation nach eigenen Aussagen über 18.000 Menschen in Sicherheit gebracht.