Das Wachstum europäischer Großstädte ist ungebrochen, aber es fehlen die Flächen für eine Entwicklung nach Innen. Bodenspekulation und weiterer Flächenverbrauch sind die Folge – mit verheerenden Auswirkungen auf Sozialstaat, Klima und Natur. Dabei zeigt die Geschichte der europäischen Städte, dass immer wieder einzelne Gebäude oder ganze Stadtsegmente aus der Nutzung fallen. Solche Urbanen Obsoleszenzen bilden seit jeher die Grundlage für das Palimpsest auf dem die europäischen Städte gebaut sind. Megatrends wie Klimawandel, Digitalisierung, Wandel der Mobilität oder der Religiosität sind heute ihre Treiber, und sie könnten nach wie vor ein bedeutsames Reservoir für die Innenentwicklung stellen, nachdem die klassischen Konversionsflächen zur Neige gehen. Es gilt, diese aktuellen Systeme Urbaner Obsoleszenz zu verstehen – sie frühzeitiger als bislang zu erkennen und für das Gemeinwohl wie auch für eine nachhaltige und klimagerechte Zukunft zu sichern.
Urbane Obsolenz als Ressource der Innenentwicklung
Die Innenentwicklung vieler Städte in wachsenden Kontexten ist mittlerweile an ihren Grenzen angelangt. Um nicht in alte Muster der Außenentwicklung zurückzufallen wird das vorausschauende Recyclen nicht mehr benötigter Gebäude und Flächen zu einer zentralen Aufgabe der integrierten Stadtentwicklung. Stadt muss in Zukunft – wie dies in der Architektur bereits seit einiger Zeit diskutiert wird – als zirkuläres System verstanden und entwickelt werden.
Gebäude und Flächen, die aus ihrer aktuellen Nutzung fallen und damit obsolet werden, verfügen über Raumpotenziale für dieses zirkuläre Denken. Die zirkuläre Stadt legt damit den Grundstein für stadträumliche Transformationen. Ein anschauliches Beispiel sind vormals städtische Wallanalgen: Einst zum Schutz der Bevölkerung als massive bauliche Strukturen angelegt, konnten diese im Zuge der Urbanisierung und der Erfindung neuer Verteidigungstechniken ihren ursprünglichen Zweck nicht mehr erfüllen. Die obsolet gewordenen Strukturen setzten enorme Flächenpotenziale frei. In den meisten Städten wie etwa in Frankfurt, Bremen oder Hamburg wurden die transformierten Wallanlagen zu öffentlichen Grünräumen, die bis heute der städtischen Bevölkerung und damit dem Gemeinwohl dienen.
Obsolete städtische Systeme und deren innerstädtische Raumpotenziale haben heute eine hohe Relevanz, denn: Vor dem Hintergrund einer stagnierenden Wirtschaft in den 1990er Jahren sowie stagnierender oder rückläufiger Einwohnerzahlen, verkauften Kommunen, Bund und Länder sowie die ihnen gehörenden Unternehmen immense Wohnungs- und Grundstücksbestände. Die Handlungsfähigkeit der Kommunen und damit die Möglichkeit einer gemeinwohlorientierten und klimagerechten Innenentwicklung wurde dadurch zunehmend schwieriger. Seit Jahren sind unsere Städte nun einem hohen Wachstumsdruck ausgesetzt. Es gibt kaum bezahlbaren Wohnraum. Die Entwicklung der wenigen verbliebenen innerstädtischen Grundstücke wird durch Nutzungskonkurrenzen behindert. Die steigenden Bodenpreise machen eine Rekommunalisierung nahezu unmöglich. Und zuletzt droht das 30 Hektar-Ziel, das der Schonung der Ressource Boden dienen soll, erneut zu scheitern.
Die zirkuläre Stadt soll nun die Möglichkeit bieten, Flächen für eine gemeinwohlorientierte, klimagerechte und ko-produktive Stadtentwicklung verfügbar zu machen. Um dies zu erreichen wird folgender Ansatz verfolgt: Megatrends und Innovationen können einen disruptiven Effekt auf bestehende Systeme ausüben – wie am Beispiel der Wallanlagen verdeutlicht. Die aktuell dominierenden Megatrends sind Klimawandel, Digitalisierung, Wandel der Mobilität und der Religiositätswandel. Es ist davon auszugehen, dass diese erwartbare urbane Obsoleszenzen generieren. Werden perspektivische Obsoleszenzen frühzeitig erkannt, besteht ein zeitlicher Spielraum für kommunale und institutionelle Akteure (gemeinsam mit relevanten Interessensgruppen), um die Entwicklung bzw. Transformation der perspektivischen Obsoleszenzen in Richtung Gemeinwohl und Klimaadaption zu lenken.
Im Rahmen von vorbereitenden Seminaren und Projekten sowie der Winterschool soll die zirkuläre Stadt räumlich geschärft und mögliche Transformationsprozesse durchgespielt werden. Es können dabei die Architektonische-, die Raum-, die Akteurs-, und die Bodenpoltische-Ebene mitgedacht werden. Mögliche Fragestellungen könnten sein:
Alternative Ansätze der Zirkularität
Neben dem oben formulierten „Obsoleszenz-Ansatz“ gibt es vielfältige weitere Ansätze und Konzepte der Zirkularität, die in den Lehrveranstaltungen behandelt werden können. Dazu gehören u.a.: Urban Mining, Cradle to Cradle, Zirkuläres Wohnen, Modulares Bauen oder etwa die Aktivierung von Leerständen oder baureifer Grundstücke für die Innenentwicklung. Winterschule im März 2022 in Mannheim – Studierende entwerfen die zirkuläre Stadt Die Winterschule mit dem Titel Die zirkuläre Stadt wird im März 2023 in Mannheim stattfinden und sich mit perspektivischen Transformationsfeldern der Stadt befassen und für diese Orte prototypische Ansätze der Zirkularität entwickeln. Sie baut auf den breitengefächerten Themen und Ergebnissen der Lehrveranstaltungen auf. Die Teilnehmer*innen bilden kleine, interfakultative Teams, die die mitgebrachten Thesen und Konzepte hinterfragen, fortspinnen und verdichten. Dabei soll nicht nur Textarbeit entstehen, sondern auch Grafiken, Skizzen, abstrakte Modelle, die gewählte Ansätze und Konzepte illustrieren, Fotomontagen mit Vorher-Nachher-Effekt, die die Wirkung einer These oder eines Konzeptes verbildlichen, etc. Ziel ist es, die Erkenntnisse der Lehrveranstaltungen weiter zu verdichten und für diese eine neue, frische und generationenspezifische Denk- und Sichtweise zu formulieren.
Der Workshop beginnt mit einer gemeinsamen Reflexion und kritischen Diskussion der Ergebnisse aus den Lehrveranstaltungen. So Ressourcen vorhanden sind wird die Arbeitsphase am Abend mit einer Keynote eines Protagonisten zirkulären Denkens eingeleitet. Danach folgen drei Arbeitstage, die jeweils mit einer Breakfast-Lecture von Experten aus Praxis und/ oder Lehre eingeleitet werden. Der letzte Tag dient der Zusammenführung und Präsentation der Ergebnisse. Wie in den Jahren zuvor werden die Resultate des Workshops auf dem Hochschultag präsentiert, der voraussichtlich im Juni 2023 ausgerichtet wird. Eine ausgewählte Gruppe von Studierenden, die an der Winterschule teilgenommen haben, wird diese dort präsentieren. Geplant ist zudem, die Ergebnisse der Lehrveranstaltungen sowie des Workshops in einer Buchpublikation zusammenzufassen, die auch ein Positionspapier der Lehrenden enthalten wird.
Idee und Text basieren auf Erkenntnissen des Forschungsprojekts „Obsolete Stadt“, das von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert wird (www.obsolete-stadt.de).
Prof. Stefan Rettich
Sabine Tastel
Fachgebiet Städtebau am Institut für urbane Entwicklungen der Universität Kassel
5./6.–10. März 2023 in Mannheim