Medieninformation | 25. Februar 2022 | pp

Vermessung eines Mythos – das Atlantis des Iraks

Im Frühling startet eine Grabungskampagne, die Aufschluss über die spätantike und frühislamische Kulturmetropole al-Ḥīra geben soll

Flugzeuge rauschen über den Internationalen Flughafen al-Najaf im Irak. Sie bringen Pilger*innen zu einem der bedeutendsten islamischen Heiligtümer, dem vermuteten Grab des Imam Ali ibn Abi Talib, einem Nachfolger des Propheten Mohammed. Was die Passagiere beim Anflug kaum wahrnehmen: Unter ihnen stand einst die spätantike und frühislamische Kulturmetropole al-Ḥīra – das „Atlantis des Iraks“. Ein interdisziplinäres, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Team von der TU Berlin, dem Museum für Islamische Kunst und der Orientabteilung des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI) konnte jetzt mit einer sogenannten Magnetometer-Prospektion „unter die Erde schauen“ und Siedlungsreste genauer lokalisieren. Im Frühjahr 2022 beginnen gezielte Ausgrabungen und genaue Vermessungen. Sie sollen den Blick freigeben auf das Leben in antiken und frühislamischen Epochen sowie in Zeiten des politischen und religiösen Umbruchs.

„Al-Ḥīra war zwischen dem 4. und 7. Jahrhundert das kulturelle Zentrum der Lahmiden-Dynastie, südlich der heutigen irakischen Städte Najaf und Kufa am unteren Euphrat gelegen“, erklärt Dr.-Ing. Martin Gussone vom TU-Fachgebiet Historische Bauforschung und Denkmalpflege. Er leitet das Projekt zusammen mit PD Dr. Martina Müller-Wiener vom Museum für Islamische Kunst. „Die Stadt war bis in das 10. Jahrhundert unserer Zeitrechnung besiedelt und als Mythos von großer Bedeutung für die frühislamischen Stadtgründungen und die Architekturentwicklung. Ihre prächtigen Paläste wurden in berühmten Dichtungen der Zeit besungen.“

Eile ist geboten – Bau- und Infrastrukturmaßnahmen bedrohen die antiken Siedlungshügel

Das Gebiet des historischen al-Ḥīra ist von den beiden schnell wachsenden Städten Najaf und Kufa im Nordwesten und Abu Sukheir im Südosten eingeschlossen. So ist Eile geboten, denn Bau- und Infrastrukturmaßnahmen haben viele der historischen Siedlungshügel, der „Tells“, bereits stark zerstört.

In der ersten Projektphase (2015 – 2018), konnte bei einem archäologischen Survey, ergänzt durch geophysikalische und photogrammetrische Methoden, die genauere Lage und Ausdehnung der Siedlung definiert werden. Sichtbare Strukturen und Konzentrationen von Ziegelbruch oder Keramik wurden per GPS eingemessen sowie Oberflächenfunde eingesammelt.  Das aktuelle dreijährige Nachfolgeprojekt bewilligte die DFG bereits 2020. Aus Pandemiegründen konnten die Forscher*innen aber erst Ende Oktober 2021 im Irak eine großflächige Magnetometer-Prospektion sowie archäologische und bauforscherische Untersuchungen durchführen. Derzeit werden die Daten ausgewertet, um genaue Ansatzpunkte für Ausgrabungen im Frühjahr festzulegen.

Kooperation mit den Antikenbehörden vor Ort funktioniert sehr gut

Die Wissenschaftler*innen sind an die Überwindung von Hürden gewöhnt. Nicht nur die aktuelle Pandemiesituation schränken sie ein, sondern auch die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen. Kriegsbedingt konnte sogar lange Zeit gar keine Forschung stattfinden. Doch vor Ort ist das Interesse an den Arbeiten groß. Martin Gussone: „Die Kooperation mit den Antikenbehörden im Irak funktioniert sehr gut. Unser Projekt profitiert sehr von der langjährigen vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen DAI und der Antikenbehörde. Die gemeinsame Arbeit an der Dokumentation der materiellen Zeugnisse ist wichtig, um die Stätten zu bewahren. Wir hoffen, dass archäologische Schutzzonen eingerichtet werden können, um das zu schützen, was vom historischen Erbe noch vorhanden ist.“

Trotz der Widrigkeiten sei die Qualität der erhobenen Messdaten exzellent, so der Wissenschaftler. Unter anderem konnten weitere Fundplätze und Grundrisse von Räumen, Türmen, einer vermutlichen Kirche ermittelt werden. „Den Hügel Tell K3 umgab ein dichtes, urbanes Quartier mit großen Gebäuden. Er scheint eines der wesentlichen Siedlungszentren des antiken al-Ḥīra gewesen zu sein.

Notgrabungen auf dem Flughafengelände

Um Licht ins Dunkel der gemeinsamen christlichen und islamischen Geschichte zu bringen, ist es interessant, auch Auskunft über die Umnutzung der Gebäude im Zuge politischer und religiöser Umbrüche zu erhalten. Bei irakischen Notgrabungen auf dem Flughafengelände wurden bereits die Reste von zwei vermutlich spätantiken Kirchenbauten freigelegt, die Dr.-Ing. Ibrahim Salman (DAI) genauer untersuchte. Veränderungen an Bau und liturgischer Ausstattung können auf deren zeitweilige Funktion zum Beispiel als Bischofs-, Gemeinde-, Kloster-, oder Familienkirche hinweisen und damit etwas über das urbane Umfeld von al-Ḥīra verraten.

„Zu Beginn unserer Arbeiten war das Wissen über die Siedlung vor allem von quasi mythischen, historischen Überlieferungen geprägt. Von der bevorstehenden Grabungskampagne an den Siedlungshügeln und weiteren exemplarischen Bauten versprechen wir uns nicht nur konkrete architektonische Erkenntnisse, sondern weiteren Aufschluss über die Gestalt und Geschichte der historischen Siedlung.“

Projekttitel: „Das spätantike und frühislamische Hira – Urbanistische Transformationsprozesse einer transregionalen Kontaktzone“. Kooperationsprojekt der TU Berlin, Fachgebiet Historische Bauforschung (Prof.-Dr.-Ing. Thekla Schulz-Brize) mit dem Museum für Islamische Kunst Berlin (PD Dr. Martina Müller-Wiener) und dem Deutschen Archäologischen Institut Berlin/Orientabteilung (Dr. Dr. Margarete van Ess)

Kontakt

Prof. Dr.

Thekla Schulz-Brize

Fachgebiet Historische Bauforschung

thekla.schulz-brize@tu-berlin.de

+49 (0)30 314-796 94

Sekretariat A 58

Dr.-Ing.

Martin Gussone

Fachgebiet Historische Bauforschung

martin.gussone@tu-berlin.de

+49 (0)30 314 79613

Sekretariat A 58