Gärtnern statt steuern

Nina Langen und Jan-Peter Voß über die Erforschung des Schmeckens, wilde Autogustografien, lustbetontes und freudvolles Gestalten einer nachhaltigen Ernährung sowie Möglichkeiten und Grenzen von Citizen Science

Frau Prof. Langen, Herr Prof. Voß, in Ihrem Forschungsprojekt ‚Schmeck!‘ wollten Sie herausfinden, was Schmecken eigentlich ist? Können Sie die Frage nach Ihrer dreijährigen Forschung beantworten?

Jan-Peter Voß: Nach unseren Forschungen ist Schmecken kein mechanischer Prozess, bei dem eindeutige Einflussfaktoren klar determinierte Ergebnisse hervorbringen. Vielmehr ist Schmecken das komplexe Zusammenspiel tausender Faktoren in ganz konkreten Situationen. Das ist unter anderem das Ergebnis der sogenannten Autogustografien, die unsere 25 Citizen Scientists erstellten und mit denen sie versuchten zu erfassen, was für sie schmecken ist. Es zeigte sich, dass die Bandbreite der das Schmecken beeinflussenden Faktoren von der Empfindung im Mund, über die Erinnerung an einen Geruch aus der Kindheit bis hin zur emotionalen Verfassung und der Gesellschaft, in der man sich beim Essen befindet, reichen. Kurzum: Sinnliches Erleben beim Essen ist nicht allein bestimmt durch Zuckergehalt, Aussehen, Informationen, Stimmung oder Persönlichkeit der Essenden. Schmecken als vielschichtiges Gefühl von Lust, Neugierde, Überraschung oder Geborgenheit, aber auch Langeweile, Ablehnung, Vorsicht oder Bedrohung ist eher zu verstehen als Ergebnis des ökologischen Zusammenspiels vieler verschiedener Aspekte. Es ist wie das Aufblühen oder Verkümmern eines Gartens. Wenn wir ästhetische Erfahrungen verstehen und gestalten lernen wollen, müssen wir meines Erachtens Abstand nehmen vom Modell der Maschine, der Hebel und der Stellschrauben.  

Nina Langen: Ich möchte auf ein Experiment verweisen, das mein Fachgebiet zur Langen Nacht der Wissenschaften 2019 durchführte. Wir baten die Besucherinnen und Besucher zu sagen, ob sie einen Kreis, ein Viereck oder ein Viertel eines Kreises mit der Geschmacksrichtung süß assoziieren. Das Viertel eines Kreises schmeckte den Leuten am süßesten. Das heißt, auch Formen beeinflussen das Geschmacksempfinden. Das ist nur ein Beispiel für all das, was in der ästhetischen Dimension des Essens relevant sein kann. Das ist insofern interessant, als dass Ernährung und insbesondere nachhaltige Ernährung bislang vornehmlich unter ökonomischen, ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Aspekten betrachtet wird, die sinnliche Wahrnehmung aber, die ja ganz wesentlich ist dafür, was Leute essen wollen, in der Forschung bislang viel zu wenig untersucht wurde.

Jan-Peter Voß: … und das führt dann auch zu ganz anderen Gestaltungsstrategien. Wenn wir ernst nehmen, dass Essen stark mit Gefühlen verknüpft ist, dann hat es keinen Sinn, ständig gegen diese Gefühle anzuregulieren. Vielmehr müssen wir mit dem sinnlichen Erleben selbst arbeiten. Aber schmeckende Menschen sind nicht als vor sich hin ratternde Maschinen oder berechnende Computer zu verstehen. Deshalb müssen wir auch nach ganz anderen Ansätzen suchen, wenn wir meinen, die Esspraxis der Menschen verändern zu wollen, zum Beispiel in Richtung weniger Fleischkonsum. Dann geht es eher um Anregung und Ermöglichung, um Experimente mit der Komposition von Situationen als um Informationen, Anreize und Verbote – ums Gärtnern eben, statt ums Steuern.

Nina Langen: Während der erwähnten Langen Nacht der Wissenschaften 2019 stellten wir den Besucherinnen und Besuchern auch verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl, mit denen sie ihr Schmecken beschreiben sollten: Zur Wahl standen Farben, Formen, die rein verbale Beschreibung ihres Schmeckens oder man dachte sich eine Geschichte aus. Jede und jeder konnte selbst entscheiden, welche Ausdrucksform einem persönlich am geeignetsten erschien. Und wir stellten fest, dass die Methode zu dem Menschen passen muss, soll er sein Schmecken beschreiben. Die oft genutzten Skalen zur Beschreibung von Geschmack sind demnach kaum geeignet, das individuelle Geschmacksempfinden bestmöglich und unverzerrt abzubilden. Bekannte Skalen sind zwar standardisierbare und vergleichsweise einfach auswertbare Methoden. Dazu geeignet, Hinweise auf die besten Wege zur nachhaltigen Ernährung zu geben, sind sie damit aber nicht unbedingt. Das bedeutet, dass wir über die besten Tools zur Förderung einer nachhaltigen Ernährung weiter nachdenken und diese im Feld unter Einsatz unterschiedlicher Methoden erproben müssen.

Dennoch verstehe ich noch nicht, wie durch den Fokus auf Ästhetik, auf sinnliches Erleben beim Essen der Fleischkonsum reduziert werden soll und das muss er, denn 13 Prozent der Treibhausgasemissionen sind auf die Viehzucht zurückzuführen. Und ohne die Reduzierung des Fleischkonsums vor allem in den Ländern des globalen Nordens ist das Ziel, in der EU bis 2050 Treibhausgasneutralität zu erreichen, nicht zu schaffen.

Jan-Peter Voß: Die Autogustografien unserer Citizen Scientists und die Experimente mit mehr als 1000 Besucher*innen im Museum für Naturkunde 2020 zeigen, wie sich Schmecken verändern lässt. Es geht darum, dass wir lernen, dass unser Schmecken komplexer und variabler ist, als wir es erfahren, wenn wir gewohnheitsmäßig immer gleich essen. Im Kern geht es um die Kultivierung einer Praxis der Aufmerksamkeit, des spielerischen Erkundens und der eigenständigen Urteilsbildung. Das geht nur durch Anregung, Übung und Erfahrung, nicht durch Regulierung. Eine Erkenntnis aus dem ‚Schmeck!‘-Projekt ist, dass wir diesen Ansatz stärken müssen für eine nachhaltige Ernährung: Das eigene Schmecken gestalten, statt uns einen Geschmack von Lebensmittelkonzernen, von Nachhaltigkeits- und Gesundheitsexperten oder der eigenen Biografie vorschreiben zu lassen. Darauf basiert unser Ansatz im ‚Schmeck!‘-Projekt: Wir wollen Menschen dazu anregen, ihr eigenes Schmecken zu gestalten, indem sie mit Elementen der Situationen experimentieren, in denen sie essen. Wir wollen die Lust betonen und Neugierde wecken, neue Schmeckweisen, Gerichte und Esssituationen zu kreieren, mit regionalen, saisonalen oder übrig gebliebenen Produkten zu experimentieren, um eingetretene Ernährungspfade zu verlassen und neue zu betreten.

Bitte beschreiben Sie Ihre im ‚Schmeck!‘-Projekt entwickelte Methode der Gustografie, mit der Sie die Komplexität von Schmecken erkundeten.

Jan-Peter Voß: Alle 25 Citizen Scientists sollten in selbst gewählten Alltagsituationen ihr Schmecken beobachten und dokumentieren. Von wissenschaftlicher Seite haben wir da kaum Vorgaben gemacht. So entstanden unsere wilden Autogustografien. Diese haben wir zusammen mit den Citizen Scientists ausgewertet. Es zeigte sich, dass Schmecken beschrieben wird mit einem Fokus auf die Sensorik, also wie etwas schmeckt, auf Assoziationen, also Erinnerungen, die das Essen hervorrufen, die Praxis, was genau und wie gegessen wird, sowie die Umgebung, also alles, was und wer dabei ist und die Atmosphäre ausmacht. In einem zweiten Durchgang haben wir dann analytisch-disziplinierte Gustografien durchgeführt, das heißt Leitfäden entwickelt, wie das Schmecken speziell mit einem der Fokusse zu beobachten ist.

Und was erbrachte der Vergleich zwischen wilder Aufogustografie und analytisch disziplinierter Gustografie?

Jan-Peter Voß: Durch die kontrollierte Beobachtung des Schmeckens wurde es ein ganz anderes. Es hat sich nicht mehr frei entfalten können. Aus der fokussierten Testsituation ist ein neues künstliches Schmecken geworden. Das ist ein interessantes Ergebnis, weil es bedeutet, dass man das Schmecken nicht angemessen beobachten und verstehen kann, wenn man es in eine Laborsituation ‚einsperrt‘ und in bestimmten methodischen Rahmungen versucht nachzustellen – es ist dann etwas anderes, als das, was in Wirklichkeit im Alltag geschieht.

Das ‚Schmeck!‘-Projekt war ein Citizen-Science-Projekt. 25 forschende Laien waren beteiligt. Ist Citizen Science für eine solche komplexe Fragestellung, was das Schmecken ist, als Herangehensweise geeignet?

Nina Langen: Ja, ist es. Citizen Science ist ein tolles Format, um Wissen in der Gesellschaft zu heben. An manches Wissen käme man auch gar nicht heran wie zum Beispiel das Erleben des Schmeckens beim Essen mit engen Freunden, bei besonderen Momenten und Anlässen sowie auch in ganz alltäglichen Situationen. Gerade auf dem Gebiet der Ernährungsforschung ist Citizen Science ideal, um Wissenschaft mit Bürgerinnen und Bürgern zusammenzubringen, da alle tagtäglich essen und schmecken.

Jan-Peter Voß: Ich würde sogar sagen, dass Citizen Science eher in der Lage ist mit Komplexität umzugehen als Profiwissenschaft, einfach deshalb, weil professionelle Wissenschaft dazu tendiert, die Wirklichkeit immer weiter auseinanderzuhacken, um in immer spezielleren und künstlicheren Ausschnittsbetrachtungen immer noch neue theoretisierbare Ordnungsmuster festzustellen. Die Vielschichtigkeit und Verworrenheit der Wirklichkeit ist den heutigen Profis eher ein Gräuel. Amateurforscher*innen hingegen können sich oft viel unbefangener, neugieriger und umfassender auf die geballte Komplexität der Wirklichkeit einlassen, mir der wir ja auch dauernd im Alltag umgehen müssen.

Sehen Sie auch Grenzen von Citizen Science?

Nina Langen: Im ‚Schmeck!‘-Projekt haben wir Citizen Science auf sehr anspruchsvolle Art und Weise praktiziert. Das heißt, wir haben unsere Citizen Scientist nicht monoskalierte Fragen beantworten lassen oder sie nur zum Daten sammeln benutzt, sondern sie sowohl in die Ausarbeitung der Methode der Gustografie und der partizipativen Schmeck!-Ausstellung im Museum für Naturkunde als auch in die Analyse der dabei gewonnenen Daten einbezogen. In einer limitierten Projektkaufzeit von drei Jahren ist das eine sehr aufwendige Art der Wissensproduktion. Unter dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Karriereplanung stellt sich dann jeder Wissenschaftlerin, jedem Wissenschaftler die Frage, ist ein solch extrem aufwendiges Forschungsprojekt meiner Karriere zum jetzigen Zeitpunkt förderlich, wenn zum Beispiel Ergebnisse nicht ohne Weiteres dahingehend zu quantifizieren sein werden, dass diese konkrete Maßnahme zu diesem konkreten Ergebnis führt und soundso viel CO2 eingespart wird – der Forschungsmittelgeber aber genau diese akkurat messbaren Aussagen erwartet. Im ‚Schmeck!‘-Projekt war zudem der administrative Aufwand für beide Seiten zu hoch, allein schon, was die Rechnungsstellung der Aufwandsentschädigungen für die Citizen Scientist betraf. Es muss meines Erachtens daher diskutiert werden, ob die Citizen Scientists für die Zeit eines Projektes nicht mit beispielsweise einer halben Stelle angestellt werden sollten.

Jan-Peter Voß: Wie intensiv und kompetent und damit am Ende auch wie gleichberechtigt mit den Profis die Citizen Scientists sich in den Forschungsprozess einbringen können, hängt ganz wesentlich vom Faktor Zeit ab. Wenn ihnen nur ein, zwei Stunden Freizeit pro Woche zur Verfügung steht, kann nicht erwartet werden, dass sie wirklich an der Konzeption und Methodik mitdenken. Wenn eine solche intensive Zusammenarbeit gewünscht ist, also Citizens nicht nur zum Ausführen der von Profi-Wissenschaftler*innen bestimmten Pläne instrumentalisiert werden sollen, dann müssen sie auch mit mehr Ressourcen ausgestattet werden. Es sei denn man möchte nur Privatiers als Citizens haben.

Frau Prof. Langen, Sie sagten zu Beginn des ‚Schmeck!‘-Projektes 2018, dass Sie in das Projekt gestartet sind, ohne den in diesem Projekt einzuschlagenden Weg und die dort verwendete Methode zu kennen, um an Wissen heranzukommen, und somit Forschungsroutinen hinter sich lassen mussten. Welche Schlussfolgerung ziehen Sie für sich aus dem Experimentieren mit Citizen Science für Ihre weiteren Forschungen?

Nina Langen: Von allen transdisziplinär und partizipativ angelegten Projekten, die ich bislang durchgeführt habe, war dieses für mich das offenste und nicht vergleichbar mit anderen Forschungsvorhaben. So ein Citizen-Science-Projekt braucht noch einmal ganz andere Ressourcen als zum Beispiel ein Reallaborformat oder eine reine Befragung von Konsument*innen. Einige Citizen Scientists sind in den drei Jahren auch abgesprungen, und wir wissen trotz Nachfrage teils nicht, warum sie ausgestiegen sind – ob der Zeitaufwand zu groß geworden war oder sie frustriert waren. Es treibt mich um, das nicht zu wissen. Schließlich sind das Menschen, die gegenüber Wissenschaft offen sind und wenn diese frustriert aufgeben, weil es ihnen keinen Spaß mehr gemacht hat, wissenschaftlich zu arbeiten, dann verbreitet sich das ja auch als Narrativ. Ich habe mich auf diese Form des sehr offenen Citizen-Science-Projekts spontan eingelassen. Ein zweites Mal würde ich das wahrscheinlich so nicht tun, sondern unter anderem die angesprochenen Ressourcenfragen vorab anders stellen und beantworten.

Und Sie, Herr Prof. Voß?

Jan-Peter Voß: Mein Problem mit Citizen Science ist, dass es in jeder Hinsicht viel, viel aufwendiger ist als mit Kolleginnen und Kollegen aus einer Disziplin zu arbeiten, die durch das wissenschaftliche System geschliffen sind und auf die gleiche Art und Weise denken und funktionieren wie man selbst. Von der Projektleitungsperspektive her sind Citizen-Science-Projekte zudem eine Zumutung, weil die Arbeit in keinem Budget, das man zur Verfügung hat, abgebildet wird. Sie verbringen ihre 60-Stunden-Woche als Wissenschaftler auch schon mal des nachts mit dem Spülen von 300 Gläsern nach einem Experiment mit Bürgerinnen und Bürgern und nicht mit dem Schreiben eines wissenschaftlichen Artikels oder mit der Pflege von Kontakten in der Fachgemeinschaft. Unter dem Aspekt der Karriereplanung ist es reine Zeitverschwendung. So habe ich nach jedem Citizen-Science-Projekt geflucht, aber dann überwog irgendwann doch wieder die Lust und Neugierde, mich auf ein neues einzulassen.

 

Das Interview führte Sybille Nitsche