Chinas Innovationsschub: Utopie oder Dystopie?

Die Feature-Reihe chinnotopia beleuchtet den Innovationsschub in Asien

Im Hyperloop mit 1.200 Stundenkilometern in rund 45 Minuten von Hamburg nach München sausen – visionär klingen derartige Reisen in geschlossenen Kapseln, die nahezu in Schallgeschwindigkeit durch einen Vakuumtunnel gleiten. Weltweit gibt es bereits erste Teststrecken. Auch die chinesische Southwest Jiaotong Universität in Chengdu arbeitet an einer Schwebebahn im sogenannten evakuierten Röhrensystem. Die Zeitebenen Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit verwischen sich gerade in unvorstellbarer Dynamik. In China läuft die Zeit noch schneller, seit die chinesische Regierung in dem Wirtschaftsplan „Made in China 2025“ vorgestellt hat, wie das Land bis 2049 in zehn Schlüsselindustrien eine weltweite Technologieführerschaft aufbauen möchte. Dazu gehören Hightech-Ausstattungen in Luft- und Raumfahrt sowie in See- und Schienenverkehr, energieeffiziente Elektromobilität, Informations- und Kommunikationstechnologie, Robotik und Biotech.

Online-Veranstaltung am 9. Februar 2021

Gemeinsam bieten Dr. Tania Becker, Sinologin am China Center der TU Berlin (TUB), Dr. Josie-Marie Perkuhn, Politikwissenschaftlerin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), und Dr. Nancy Wilms, Betriebswirtschaftlerin an der Ruhr-Universität Bochum (RUB), seit November 2020 eine Veranstaltungsreihe, die gleichzeitig Faszination und Widerspruch thematisiert: chinnotopia– Future designed by China. Bei der Online-Feature-Reihe dreht sich alles um eine kenntnisreiche und kontroverse Debatte über China als Innovationsinkubator. Das nächste Feature für Fachexpert*innen, interessierte Öffentlichkeit und Startup-Gründer*innen findet am 9. Februar 2021 von 16 bis 18 Uhr statt. Das Thema kurz vor dem Valentinstag: Visions of Love.

Anmeldung und weitere Informationen unter https://www.china.tu-berlin.de/menue/projekte/tuwitech/chinnotopia/.

Ein Land als Reallabor

Angetrieben von den Herausforderungen eines rasanten Bevölkerungswachstums soll die Zukunftsmobilität in Smart Cities einen Verkehrsinfarkt und Smog verhindern: Flächendeckender autonomer Verkehr sowie Car- und Bike-Sharing sollen individuelle Pkws ersetzen. Sensorik an autonomen Fahrzeugen ermöglicht intelligentes Verkehrsmonitoring. Crowd Logistic, bei der Pakete an zentrale Orte geliefert werden, von denen die Kunden sie sich selber abholen, reduziert den Lieferverkehr.

Zeigen diese Technologien, wie wir in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren auch in Europa leben werden? Und: Wollen wir diese Lebensformen? Diesen Fragen geht „chinnotopia – Future designed by China“ nach. Zu den rund 80 Teilnehmer*innen gehören Student*innen, Akademiker*innen, (Wirtschafts-)Politiker*innen, Wirtschaftsakteur*innen, Startup-Gründer*innen und Interessierte.

„Einerseits wollen wir anschauen, wie die Innovationstechnologien funktionieren, andererseits untersuchen wir, wie diese Technologien die Gesellschaft beeinflussen“, beschreibt Tania Becker die Idee von chinnotopia. „Außerdem wollen wir bei Student*innen und einer breiten Öffentlichkeit das Interesse an China wecken.“ Die drei Veranstalterinnen sind überzeugt: „Die Zukunft kommt aus China mit einer beispiellosen Geschwindigkeit der digitalen Innovationen.“

In der Feature-Reihe debattieren Akademiker*innen und Praxis-Expert*innen wertoffen über die Auswirkungen des technologischen Fortschritts: Wie konnte sich die offene Datenbankstruktur Blockchain in kürzester Zeit zu einem weit verbreiteten digitalen Zahlungssystem, der sogenannten Kryptowährung, in China ausweiten? Warum setzt die chinesische Regierung auf E-Mobilität? Wie weit geht die Akzeptanz in der chinesischen Bevölkerung?

Miriam Theobald, Mitgründerin und Geschäftsführerin der Plattform DONGXii, die deutsche Unternehmen beim Einstieg in den chinesischen Markt unterstützt, zeigte bei der Auftaktveranstaltung, wie Life Streaming und soziale Medien längst den chinesischen Alltag mitbestimmen. Sie forderte die Kurs-Teilnehmer*innen auf: „Erkennen Sie China als Reallabor an. Schauen Sie sich ohne eine Wertebrille an, wie die digitale Transformation dort funktioniert.“

Experimentierfreude als Innovationstreiber

Die verantwortlichen Wissenschaftlerinnen der drei Universitäten betrachten China im Vergleich zu Europa als einen Innovationstreiber. Chinas wachsende Märkte leben von staatlicher Subvention – zum Beispiel günstigen Investitionsbedingungen, staatlichen Zuschüssen, Begünstigungen im Verkehr – und politischen Vorgaben, wie die Quote für Elektroautos und steigendem Zulassungsverbot von Autos mit Verbrennungsmotoren. Unterstützt von staatlichen Agenturen boomt die innovations-technologische Startup-Szene. Risikofreudiges Wagniskapital ist reichlich vorhanden.

Die Technologien-pushende Gesetzgebung und eine durchaus experimentierfreudige Gesellschaft bilden den Rahmen, um in der Praxis auszuprobieren, welche Technologien funktionieren und was nicht gut läuft. „Deutschland ist träge“, stellt Josie-Marie Perkuhn fest, „und funktioniert nach der Maxime: ‚Don‘t change a running system‘“.

„Die Chinesen experimentieren gerne. Sie integrieren Innovationen fest in den Alltag. Die flächendeckende Kommunikationsinfrastruktur bis in ländliche Gegenden hinein ermöglicht überall Live Streaming. Gerade in Dörfern ist zum Beispiel das Videoportal TikTok äußerst beliebt“, unterstreicht Nancy Wilms. „Bei Führungen mit Wirtschaftsdelegationen erlebe ich immer wieder, dass die Wirtschaftsvertreter*innen technisch nicht ausgestattet sind für den touristischen Alltag in China. So fehlt ihnen die Technologie für das bargeldlose Bezahlsystem, das mittlerweile in jeder noch so kleinen Stadt und in jedem Dorf genutzt wird. Sie können sich nicht einmal ein Getränk kaufen.“

Auch das Online-Feature lebt von einer zukunftsgewandten Neugier. „Als Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen wollen wir mehr erfahren über grundlegende Technologien wie LiDAR, das ist eine radarähnliche Methode zur Abstands- und Geschwindigkeitsmessung), digitale Zwillinge, Online-Dating und Cybersecurity“, sagt Tania Becker.

China als gelobtes Land?

„Chinas aufstrebende Wirtschaftsmacht birgt ebenso viele Ängste wie Faszination. Ohne dabei blauäugig über die vielen gesellschafts-politischen Differenzen hinwegzusehen, wollen wir alle einladen, mit uns den Dialog zu führen“, justiert Josie-Marie Perkuhn den Fokus. In chinnotopia werden bei den Vorstellungen der innovativen Technologien gleichzeitig deren Schattenseiten diskutiert. Zu den Bedingungen und den Einsatzbereichen der Blockchain-Technologie hat Chinas Führung zum Beispiel klare Vorstellungen entwickelt. Doch überzeugt der Kompromiss zwischen politischer Zentralkontrolle und dezentraler Softwareprotokolle in der Praxis?

Rechtliche Hürden beim Datenschutz sind in China niedriger. Die Risiken, wie Big Data zu einem umfassenden Überwachungssystem ausgebaut werden können, werden weniger ernst genommen, die Vorteile werden stärker wahrgenommen. Das chinesische Sozialkreditsystem erhebt umfangreiche Daten zum Verhalten der Bürger*innen. Bewertet werden allerdings auch Unternehmen und Verbände, so dass sich die Chinesen von dem System einen Schutz vor Lebensmittelskandalen und Finanzbetrug erwarten. Bei der automatisierten Gesichtserkennung ist in China die Datenspeicherung umstritten. „Aber die Technologie wird erst einmal ausprobiert. Mögliche Fehler, die bei der Anwendung auftreten, werden anschließend – meist diskret im Verborgenen – verbessert“, erklärt Nancy Wilms die unterschiedliche Herangehensweise.

Auch in der vorlesungsfreien Zeit geht die Feature-Reihe weiter. Im Sommersemester 2021 soll es in Berlin und in Kiel jeweils eine Student*innen-Gruppe vor Ort geben, die miteinander im Online-Dialog stehen. „Die inter-universitäre Kooperation erfordert viel Aufwand, aber der vielseitige Austausch ist es uns wert. Wir sind froh, die nötige Unterstützung von den Universitäten zu erhalten“, hebt Tania Becker hervor.

Utopie oder Dystopie – oder am Ende beides?

Ulrike Freitag, Doktorandin an der Universität Heidelberg, zeigte im ersten Feature die Verbindung von Utopie und Dystopie auf: Der britische Politiker Thomas Morus schilderte 1516 die imaginäre Insel „Utopia“ als eine Idealgesellschaft. Er prägte mit seinem Werk den Begriff Utopie, den er vom altgriechischem „ou“ für „nicht“ und „topos“ für „Ort“ ableitete. Der Gegenentwurf zu diesem Ideal stammt von dem britischen Philosophen John Stuart Mill, der im 19. Jahrhundert als Dystopie einen Ort beschreibt, an dem es übel, altgriechisch „dys“, um die Dinge steht. „chinnotopia“ zeigt deutlich: Die auf Künstliche Intelligenz aufbauenden Zukunftsszenarien lassen sich nicht eindeutig als Glücksbringer oder Unheilverkünder etikettieren.

„Wir haben uns bewusst für die Bezeichnung ‚ch-inno-topia‘ entschieden“, erläutert Josie-Marie Perkuhn. „Das steht für China, Innovation und Utopie ebenso wie Dystopie.“ Es hänge von der Perspektive ab und von der Bereitschaft, über normative Werte in der Gesellschaft zu diskutieren: Wie wollen wir leben? „Des einen Utopie ist des anderen Dystopie“, fasst sie mit einem Zitat nach ihrem Kollegen Dr. Hilmar Grabow von der CAU zusammenfassen.

 

Autorin: Christina Camier

Kontakt

chinnotopia – Future designed by China

info@chinnotopia.de

Dr.

Josie-Marie Perkuhn

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)

jmperkuhn@politik.uni-kiel.de

Dr.

Nancy Wilms

Ruhr-Universität Bochum (RUB)

Nancy.Wilms@rub.de