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Gesellschaft unter Spannung

Verändert die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft nachhaltig? Ein Interview mit Prof. Dr. Martina Löw

Die rasante weltweite Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus stellt nicht nur eine Herausforderung für die Medizin dar. Mehr und mehr wird aus der medizinischen Krise auch eine gesellschaftliche. Ganz im Sinne der altgriechischen Bedeutung des Wortes Pandemie („pan“ für gesamt, umfassend und „demos“ für das Volk) hat die Pandemie mittlerweile erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft – nicht zuletzt auch auf die Gesellschaftsteile, die von der eigentlichen Erkrankung nur in sehr geringem Maße betroffen sind.

An der TU Berlin steht Prof. Dr. Martina Löw, Professorin für Planungs- und Architektursoziologie, zum einem dem DFG-Sonderforschungsbereich „Re-Figuration von Räumen“ vor. Zum anderen leitet sie den Forschungsschwerpunkt „Social Cohesion“ in der Berlin University Alliance. Sie nimmt in der Analyse des aktuellen Zustandes der Gesellschaft eine eher räumliche Perspektive ein: Demnach hat die – gerade in der Pandemie rasant anwachsende – Nutzung von digitalen Technologien die Vorstellung von Räumen und Orientierung in der Welt radikal verändert. 

Erfahren Sie mehr darüber im Interview mit Prof. Dr. Martina Löw.

Frau Löw, stellt die Corona-Pandemie einen Bruch mit all unseren Gewohnheiten dar?

„Nein, wir erleben schon seit den 1970er Jahren eine Refiguration der Gesellschaft. Durch soziale Bewegungen, Globalisierung, Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und vor allem auch die Digitalisierung wechseln wir langsam in eine spätmoderne Gesellschaft. Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein sehr abstraktes, containerförmiges Verständnis von Raum hat. Räume sind Kisten, Behälter, umschlossene Areale. Die mittelalterliche Raumvorstellung orientierte sich dagegen an konkreten Orten. In der späten Moderne verändert sich die Container-Raumvorstellung erneut gravierend: Neben den Behälterraum schiebt sich eine Vorstellung von Raum als Netzwerk. Raum wird nicht mehr als geschlossene Form oder Stück Land wahrgenommen, sondern setzt sich aus vielen einzelnen Orten zusammen, die locker über Infrastrukturen verbunden sind. In diesen Prozess der Veränderung bricht die Corona-Pandemie. In Angstsituationen suchen die meisten Menschen Sicherheit in alten Gewohnheiten: Sie schließen die Räume: Körper, Wohnräume und Länder werden wieder zu Containern, die das Virus enthalten oder sich dagegen verschließen. Parallel nimmt die digitale Vernetzung enorm zu. Das Virus scheint grenzenlos zu sein, die digitale Kommunikation ist grenzenlos. Gleichzeitig sind die Menschen jedoch lokal fixiert. Das führt zu Spannungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen.

Welche Auswirkungen haben diese gesellschaftlichen Spannungen auf jeden einzelnen?

Corona ist das Stichwort für eine gesundheitliche Krise. Es ist aber zugleich eine Krise der zwischenmenschlichen Beziehungen, die eine neue körperliche Distanz finden müssen. Menschen sind gezwungen, mehr Abstand zu halten als es sich gut anfühlt. Sie müssen neue Formen der Begrüßung erlernen, die permanent den Eindruck hinterlassen, sich unhöflich zu verhalten. Es fehlen Orte des Austauschs, des gemeinsamen Lachens, des Sich-Riechens. Menschen sind eigentlich soziale Wesen, aber die Krise macht viele einsam. Corona ist insofern auch das Stichwort für persönliche Krisen. Nicht zuletzt bedeutet Corona für viele Menschen auch eine wirtschaftliche Krise.

Unterschiedliche Gesellschaften scheinen unterschiedlich damit fertig zu werden. Wir beurteilen Sie das als Soziologin?

Das ist interessant. Zum Beispiel ist es Südkorea gelungen, eine zweite Infektionswelle und damit auch einen zweiten Lockdown zu verhindern. Die Menschen bewegen sich wie immer. Die digitale Kontrolle ist dort weit verbreitet. Die Südkoreaner testen mit ihrer App, an welchen Orten welche Gefährdungen zu erwarten sind. Wer Krankheitssymptome hat oder krank ist, muss sich umgehend in Quarantäne begeben und diese Quarantäne wird viel stärker bewacht als in Deutschland. Aber bis es soweit kommt, bewegen sich die Individuen mit viel Selbstkontrolle durch die Bahnen ihrer Netzwerke. Korea ist ein Land, das sich in den 1970er Jahren sehr schnell von einer Agrar-Gesellschaft zu einer modernen Gesellschaft entwickelt hat und dann ebenso schnell und radikal in die digitalisierte Moderne gewechselt ist. Südkoreaner erfahren Raum weniger als Container, sondern vielmehr als ein hoch dynamisches Netzwerk.

Sind unterschiedliche soziale Schichten und gesellschaftliche Gruppen auch unterschiedlich betroffen?

Diese Pandemie führt sicherlich nicht zu einer Annäherung der unterschiedlichen sozialen Gruppen: Die Existenzsorgen, gerade auch ökonomischer Art, sind in den Gruppen mit geringen Einkommen und unsicheren Jobs viel höher. Eine weitere potenzielle Spaltung liegt darin begründet, dass junge Menschen durch das Virus deutlich weniger gefährdet sind, als ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen. Ich sehe da aber viel Solidarität zwischen den Generationen. Viele junge Menschen machen sich Sorgen, ihre älteren Familienangehörigen oder Freunde anzustecken.

Wird diese Pandemie unseren Alltag nachhaltig verändern oder werden wir weitermachen wie bisher, sobald die akute medizinische Problematik gelöst sein wird?

Nichts wird sein wie früher. Wir werden uns wieder umarmen und gemeinsam feiern. Aber wir leben dann in einer digitaleren Welt. Wir leben in einer Welt, in der sich Arbeitgeber überlegen werden, wer denn einen dauerhaften physischen Arbeitsplatz im Büro braucht oder doch von Zuhause arbeiten kann. Wir werden auch die Toten nicht so schnell vergessen.

Das Interview führte Katharina Jung.

Originalpublikation

Der Text ist am 29. November 2020 in der Sonderbeilage der TU Berlin im Der Tagesspiegel erschienen.