Medieninformation | 7. Oktober 2020 | pp

Das Wissen um Raub und Beutekunst wiederherstellen

Oxford-Berlin: Deutsch-britisches Forschungsvorhaben zur Herkunftsgeschichte europäischer Kulturschätze gestartet

Verloren gegangenes Wissen um die wahre Herkunft europäischer Kunstschätze wiederherstellen und zugänglich machen: Das ist das Ziel des jetzt gestarteten deutsch-britischen Forschungsprojekts „The Restitution of Knowledge“. In den kommenden zweieinhalb Jahren werden Wissenschaftler*innen der Kunstgeschichte der TU Berlin und des Pitt Rivers Museum der University of Oxford die Wege genauer erforschen, die Kunst- und Kulturschätze der Welt in die großen europäischen Museen genommen haben. Konkret geht es um die Wiederherstellung des Wissens über Plünderungen, über gestohlene Artefakte aus der Kolonialzeit, über Kriegsbeute und Verlagerungen von Kulturgut, insbesondere aus dem afrikanischen Kontinent. Die Forscher*innen nehmen dabei gezielt die Zeit zwischen 1850 bis 1939 in den Blick. Gefördert wird das Projekt mit 700.000 Euro in einem neuartigen transnationalen Programm zur Forschungsfinanzierung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem britischen Arts and Humanities Research Council (AHRC). Das binationale Team erhielt ebenfalls eine Anschubfinanzierung durch die Berlin University Alliance.

Diebstahl, brutale Überfälle und blutige Auseinandersetzungen

„Viele unerzählte Geschichten stehen hinter den Gegenständen aus den ethnologischen Sammlungen, vor denen wir staunend in den Museen stehen – oft Geschichten von Plünderungen, von brutalen Überfällen, blutigen Auseinandersetzungen, von Sklaverei und Diebstahl – und die wollen wir sichtbar machen. Wir wollen damit dazu beitragen, die Lagerräume der europäischen anthropologischen Museen und die dazugehörigen Archivalien neu als einzigartiges Ensemble zu interpretieren, in dem diese Geschichten erzählt werden und dokumentiert sind“, erklärt Prof. Dr. Bénédicte Savoy, die das Fachgebiet Kunstgeschichte der Moderne an der TU Berlin leitet. Dort hat sie den Forschungscluster „translocations“ initiiert, wo das Projekt „The Restitution of Knowledge - Artefacts as Archives in the (Post)Colonial Museum, 1850 – 1939“ auf deutscher Seite angesiedelt ist. Ihr Partner Prof. Dr. Dan Hicks, der das Team auf britischer Seite leitet, ist Archäologe an der Oxford University und Kurator am dortigen Pitt Rivers Museum. Er ergänzt weitere Ziele des neuen Projekts: „Es geht darum, innovative vergleichende Ressourcen zu entwickeln, auch in den Sozialen Medien, die koloniale Plünderungen dokumentieren sowie deren Identifizierung und Erforschung ermöglichen. Diese sollen dann einem neuen Dialog mit der Zivilgesellschaft als Quelle dienen. Sie sollen nicht nur bei uns in Europa einen zeitgemäßeren Umgang mit Sammlungen und Ausstellungen ermöglichen, sondern auch im globalen Süden.“

Museen als Quellen der Kolonialgeschichte noch wenig erforscht

Bénédicte Savoy und Dan Hicks haben insbesondere in Deutschland, Frankreich und Großbritannien die Debatten um die Vernachlässigung der Provenienzforschung in den vergangenen Jahren stark vorangetrieben. Mit ihren Veröffentlichungen haben sie nicht nur darauf hingewiesen, dass das Potenzial europäischer anthropologischer Museen als Quellen der Kolonialgeschichte noch zu wenig erforscht ist, sie haben vor allem in der Museumslandschaft landauf, landab Diskussionen angeregt und den dringenden Wunsch geäußert, dass die Geschichte der Aneignung der Artefakte nicht verschwiegen werden darf. Bénédicte Savoy freut sich sehr auf die bereits bekundete Bereitschaft vieler Museen in Deutschland und Europa, sich am Berlin-Oxford-Projekt zu beteiligen.

„Da wir in dieser Partnerschaft verschiedene Forschungsbereiche und Fachkenntnisse zusammenbringen – wie Sammlungsgeschichte, Verlagerung von Kulturgütern, die Bedingungen des Kunstmarkts, Provenienzstudien – können wir konkretere Fragen stellen“, erklärt Bénédicte Savoy. „Wie unterscheiden wir zum Beispiel direkte Enteignungen von Sammlungen, die aus wissenschaftlichen Expeditionen stammen? Wie können Dokumente gefunden und realistisch eingeschätzt werden, die Objekte als Einkäufe, Geschenke oder Provisionen ausweisen? Solche Dokumente sind beispielsweise Briefe, Beitrittsbücher, Inschriften auf den Objekten selbst oder auch Hinweise auf historische Dokumente, die nicht überlebt haben beziehungsweise sogar aktiv zerstört wurden.“

Militärische und wissenschaftliche Expeditionen trennte oft nur eine dünne Linie

Nur ein kleiner Teil der heutigen Sammlungen nicht-westlicher Materialien stammt aus dem 17., 18. und frühen 19. Jahrhundert. Die meisten europäischen anthropologischen Museen entstanden im Verlaufe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts durch den militärisch geprägten Kolonialismus. Während einige Trophäen und Souvenirs in Militärmuseen wanderten, so wurden doch die meisten, die aus sogenannten „Strafexpeditionen“ stammten, von Militär- und Marineoffizieren oder Kolonialverwaltern in die Heimat gebracht. „Auch hier gibt es einen immensen Forschungsbedarf“, so Bénédicte Savoy. „Denn militärische und wissenschaftliche Missionen und ihre häufig gewalttätigen Methoden und Zwangsmaßnahmen des Sammelns waren oft nur durch eine dünne Linie getrennt.“

Das Projekt entwickelt Methoden zur Formalisierung und systematischen Erforschung der Herkunft ethnografischer Sammlungen im Kontext der kolonialen Enteignung. Ebenso wollen die Forschungsteams geeignete Werkzeuge und vergleichende Methoden erarbeiten, die dem Austausch von Wissen dienen. So fügt das Projekt den derzeitigen europäischen, afrikanischen und globalen Debatten um kulturelle Restitution eine neue Dimension hinzu. Die Forscher*innen wollen damit fundierte Grundlagen schaffen, die die Umgestaltung der gegenwärtigen öffentlichen, akademischen und politischen Debatte ermöglichen, sowohl zur Rückgabe von Eigentum, als auch für die Wiederbelebung des Wissens über Gewalt und die Erinnerung an kulturelle Verluste.

Das Forschungs-Cluster „translocations“ an der TU Berlin

Der Forschungscluster „translocations“ widmet sich dem Kunstraub (auch staatlich organisiertem) und der Beutekunst, insbesondere in kolonialer Zeit. Erforscht wird die Verlagerung von Kulturgütern im Kolonialismus, die durch wissenschaftliche Expeditionen sowie durch Beschlagnahmungen und Verstaatlichung stattfand. Auch der weltweite Kunsthandel sowie massive Veräußerungen privaten Eigentums in Kriegs- oder Friedenszeiten sind Thema dieses Clusters. Er ist angesiedelt am Fachgebiet Kunstgeschichte der Moderne der TU Berlin und wurde ermöglicht durch den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis, der höchstdotierten und renommiertesten wissenschaftlichen Auszeichnung in Deutschland, den die Fachgebietsleiterin und Kunsthistorikerin Prof. Dr. Bénédicte Savoy 2016 als eine der angesehensten und innovativsten Kunsthistorikerinnen gleich zweier Länder, Deutschland und Frankreich, erhielt. 

Webseite "translocations – Historical Enquiries into the Displacement of Cultural Assets"

Zur Person: Bénédicte Savoy

Die Französin Prof. Dr. Bénédicte Savoy ist nicht nur Kunsthistorikerin an der TU Berlin, sondern gleichzeitig Professorin für die Kulturgeschichte des europäischen Kunsterbes des 18. bis 20. Jahrhunderts am Pariser Collège de France. Basierend auf ihren Forschungsinteressen Kunst und Kulturtransfer in Europa, Museumsgeschichte sowie Kunstraub und Beutekunst macht sie sich bereits seit Jahren stark für die intensive Provenienzforschung, für die Implementierung von Provenienzinformationen in europäischen Museen und Ausstellungen sowie für die Restitution insbesondere afrikanischer Kulturgüter. Im Jahr 2018 untersuchte sie im Auftrag des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und zusammen mit dem senegalesischen Wirtschaftsprofessor Dr. Felwine Sarr die Wege, die Kunst- und Kulturschätze aus den ehemaligen europäischen Kolonien in französische Museen genommen haben. Es entstand der vielbeachtete „Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationelle“, der die unverzügliche Rückgabe der meisten Objekte empfiehlt.

Zur Person: Dan Hicks

Professor Dr. Dan Hicks leitet das Fachgebiet Contemporary Achaeology an der Fakultät für Archäologie der University of Oxford (GB) und ist Fellow am St. Cross College. Der Archäologe ist zudem Kurator für World Archaeology am Pitt Rivers Museum der Universität Oxford. Er ist unter anderem akkreditiertes Mitglied des Chartered Institute for Archaeologists (MCIfA), eine der höchstens Anerkennungen von fachlicher Kompetenz und Erfahrung in Großbritannien. 2017 erhielt er die Royal Anthropological Institute’s Rivers Memorial Medal, eine der höchsten Auszeichnungen in Anthropologie und Archäologie. In seiner Forschung beschäftigt er sich insbesondere mit der Herkunft von Kultur und Material. In Großbritannien ist er maßgeblicher Initiator der Debatte um Raubkunst aus der Geschichte des Britischen Empire. In seinem jüngsten Buch „The Brutish Museums. The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Resitution“ beschreibt er den Raub der berühmten Benin Bronzen während einer britischen Marineoperation 1897. Es handelt sich um eine Sammlung von Tausenden von Messingplaketten und -skulpturen sowie Elfenbeinschnitzereien, die die Geschichte des königlichen Hofes der Obas von Benin City, Nigeria, darstellen und die in der Privatsammlung Königin Victorias, im Britischen Museum und in zahllosen Privatsammlungen landeten.

Webseite Dan Hicks

Gemeinsame Forschung: Berlin – Oxford

Aus einem Memorandum of Understanding, das im Dezember 2017 eine Partnerschaft aller vier in der Exzellenstrategie der Bundesregierung verbundenen Berliner Universitäten (Freie Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technische Universität Berlin und Charité – Universitätsmedizin Berlin), der Berlin University Alliance mit der University of Oxford besiegelte, ist inzwischen eine stabile Partnerschaft geworden, die OX-BER Partnership. Der Forschungsaustausch und die wissenschaftliche Kooperation zwischen den Partnerinnen wurde im Juli 2020 durch die Gründung des Centre for Advanced Studies gestärkt. Mehr als 1000 Forscher*innen und Student*innen haben bereits von der Kooperation profitiert und an Programmen der Partnerschaft teilgenommen. Von einer Anschubfinanzierung konnte auch die Zusammenarbeit von Bénédicte Savoy und Dan Hicks profitieren.

Gemeinsame Förderung durch die deutsche DFG und den britischen AHRC

Das neue, 2019 aus der Taufe gehobene, bilaterale Förderungsprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des britischenArts and Humanities Research Council (AHRC) will Kunst- und Geisteswissenschaftler*innen aus Deutschland und Großbritannien zusammenbringen. Gefördert werden künftig jährlich einige deutsche und britische Wissenschaftler*innen, um herausragende gemeinsame Forschungsprojekte durchführen zu können. Die Projekte werden in einem wettbewerbsorientierten Peer-Review-Verfahren ausgewählt. The „Restitution of Knowledge“ gehört zu den ersten 19 Projekten, die in diesem Programm gefördert werden.

Kontakt

Prof. Dr.

Bénédicte Savoy

e.goulko@tu-berlin.de