Eigentlich sollte man sich in Deutschland sein Leitungswasser täglich in einer Kristallkaraffe auf dem Silbertablett servieren. Das würde der ausgezeichneten Qualität dieses oft vernachlässigten Alltagsprodukts durchaus gerecht werden. Warum kauft sich manch eine*r dennoch lieber in Flaschen abgefülltes Quellwasser zum Haarewaschen? Und woher kommen im städtischen Abwassersystem die sogenannten „Verzopfungen“, die langen, stinkenden Materialklumpen, die sich im Abwasserstrom ineinander verdrehen, die Abwasserpumpen blockieren und mit Hand entfernt werden müssen?
Diesen und noch viel mehr Fragen geht Prof. Dr.-Ing. Paul Uwe Thamsen, der das Fachgebiet Fluidsystemdynamik an der TU Berlin leitet, nach. Mit einem virtuellen Abbild einer Pumpstation, dem „digitalen Zwilling“, wollen TU-Ingenieur*innen die Abwasser-Infrastruktur von Großstädten und im ländlichen Raum besser verstehen und steuern. Sie beziehen in ihre Forschung Bürger*innen und Kooperationspartner*innen mit ein, um unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen.
Herr Thamsen, wie und warum integrieren Sie Bürger*innenforschung in den digitalen Zwilling einer Pumpstation?
Wasser gebraucht jede*r – als Trinkwasser ebenso wie als Abwasser. Mit unserer Forschung zur Wasser-Infrastruktur stehen wir automatisch mitten in der Bevölkerung. Um die Anforderungen an die Wasserwirtschaft verstehen zu können, waren die Bedarfe der Gesellschaft von Anfang wesentlicher Teil unserer Forschung. Mit einem Think Tank am Hasso-Plattner-Institut haben wir Verbraucher*innen zum Beispiel direkt gefragt: Welchen Stellenwert hat Trinkwasser bei Ihnen? Die Umfrage hat gezeigt, dass die Trinkwasserversorgung als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Welche Infrastruktur dahintersteht und wie jede*r mit seinem Verhalten selbst zu einem reibungsloseren Ablauf beitragen kann, ist wenigen bewusst. Viele hätten wohl ganz gerne eine Pipeline mit ihrem Lieblingsbier – bei Wasser ist uns das gelungen, nur nimmt das kaum jemand wahr! Die Frage stellt sich: Ist das so, obwohl oder weil das Trinkwasser mit dieser herausragenden Qualität täglich aus dem Hahn kommt?
Wir machen ganz praktisch Forschung mit der Gesellschaft für die Gesellschaft. Das Gespräch mit Verbraucher*innen ist für uns ebenso entscheidend wie die Zusammenarbeit mit öffentlichen Einrichtungen und Marktführern, die unsere unter realen Bedingungen entwickelten Technologien in der Praxis nutzen und sichtbar auf den Markt bringen. Deshalb kooperieren wir mit verschiedenen Partner*innen wie den Berliner Wasserbetrieben, Siemens AG, Aquanet (dem Netzwerk der Berlin-Brandenburger Wasserbranche), Deutscher Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall (DWA) sowie German Water Partnership (dem Netzwerk der international ausgerichteten deutschen Wasserbranche) und den internationalen Universitäten in Trondheim, Krakau, Dublin, Kopenhagen und Mailand.
Sind Ihnen auch Missverständnisse aufgefallen, die häufiger auftreten?
Wichtige Alltagsinformationen fehlen. Erstaunlicherweise hält sich die Überzeugung, wir sollten Trinkwasser sparen. Nein, Sparen macht Wasser teurer! Wir brauchen die Spülgeschwindigkeit in den Wasserleitungen, ansonsten kommt es zu Ablagerungen, Verblockungen und Korrosionen, aufwendige Wartungsarbeiten werden erforderlich. Insbesondere morgens oder nach der Rückkehr aus dem Urlaub sollte man die ersten Wasserstrahlen aus dem Hahn meiden und das Stagnationswasser ein paar Minuten abfließen lassen. Kaum jemand weiß, wie wenig wir zahlen: Tausend Liter Frischwasser kosten inklusive der Abwasserentsorgung etwa vier Euro, die reichen für etwa acht Tage!
Und wie sieht es beim Abwasser aus?
Wir untersuchen vor allem die Frage: Wie kommt es zu Verstopfungen im Leitungssystem? Ein großes Problem im städtischen Abwassersystem sind die unansehnlichen, klumpigen Verzopfungen. Die häufigste Ursache für diese Materialansammlungen sind Feuchttücher, die gedankenlos in die Toilette entsorgt werden. Es gibt spezielle Toiletten-Feuchttücher, die sich zerlegen. Babytücher zählen nicht dazu, sind aber gerade bei Kleinkindern, die lernen sollen, die Toilette zu benutzen, besonders beliebt. Gemeinsam mit den Wasserbetrieben informieren wir Verbraucher*innen, wie wichtig es ist, Feuchttücher zu verwenden, die nach einer kurzen Zeit zerfallen und biologisch abgebaut werden können. Wir unterstützen aktiv die Veranstaltung Wasserwerkstatt des Kompetenzzentrums Wasser Berlin gGmbH, in die wir Bürger*innen einladen. Eine bekannte Drogeriekette hat sogar ihr eigenes Produkt gegen eine zerlegbare Variante ausgetauscht. Aber kaum ist der Umgang mit Babytüchern gelernt, stehen wir mit den Kosmetiktüchern und anderen Hygieneartikeln vor einem ähnlichen Problem.
Parallel zu Veränderungen im Verbraucher*innenverhalten entwickeln wir daher neue Techniken in den Pumpsystemen, die mit Babytüchern und anderen, nicht abbaubaren Tüchern klarkommen. Mit einem digitalen Zwilling kann man die Gefahr solcher Verzopfungen frühzeitig erkennen.
Wie hilft eine digitale Anlage bei der Verbesserung der Pumpleistungen?
Wir bilden technische Daten, Einstellparameter, Betriebs- und Wartungsinformationen einer Pumpstation in einer digitalen Anlage ab. Mit diesem digitalen Zwilling einer Pumpstation können wir das Zusammenspiel aktueller und zukünftiger Technologien virtuell untersuchen. Die Maßnahmen, die wir daraus für den Abwasserbereich entwickeln, lassen sich umgehend in eine technische Umgebung einbauen, die gleich marktfähig ist. Wir erstellen also keine universitäre Laborlösung, die Jahre braucht, ehe sie in die Praxis kommt. Bei den Feuchttüchern lassen wir die Pumpen zum Beispiel rückwärtslaufen, um sie zu reinigen. Unser Forschungspartner Siemens ist Marktführer auf dem Gebiet und installiert unsere Lösung direkt in die Leittechnik.
Im Zuge zunehmender Verstädterung und voranschreitendem Klimawandel gewinnt auch Wassermanagement an Bedeutung. Kann der digitale Zwilling dazu auch etwas beitragen?
In diesen Zwilling fließen verschiedene Daten ein, die in Echtzeit erzeugt werden und zu Einsparungen und Optimierungen in vielen Bereichen führen. Darüber ist die Vernetzung mit anderen Daten wie Wetterprognosen möglich, die in die Betriebsführung von wasserrelevanten Anlagen einfließen. Übertragen auf eine reale Pumpstation bedeutet das, dass diese, wenn zum Beispiel kein Regen prognostiziert wird, energiesparend langsamer fahren kann, da kein Regenwasser abtransportiert werden muss. Bei starkem Niederschlag müssen die Pumpen hingegen schneller laufen, um die Wasserreservoirs auszunutzen und die Straßen frei zu machen. Werden in ein vernetztes System meteorologische Daten eingespeist, lässt sich das System vorausschauend fahren. Die Digitalisierung spart uns langfristig Kosten, die andernfalls bei Überflutung entstehen.
Welche Vision haben Sie? Was erwarten Sie?
Wasser hat mich immer umgetrieben. Die Bund-Länderarbeitsgemeinschaft Wasser (LAWA) hat eine „Strategie für ein effektives Starkregenrisikomanagement“ entwickelt. Die empfohlenen Maßnahmen, wie unterirdische, Regenwasserspeichernde Rigolen, mehr Biodiversität, entsiegelte statt betonierte Parkplätze, Regentonnen im Garten, richten sich an Bundes-, Landes und kommunale Ebene ebenso wie an Bürger*innen und Unternehmen. Wasser ist ein Regelkreis, bei dem der natürliche Wasserkreislauf und die menschengemachten Einflüsse kontinuierlich aufeinandertreffen. Deshalb ist der Dialog von Forschung und Gesellschaft hier besonders wichtig. Viele Ideen haben direkte Auswirkungen auf die Gesellschaft. Akzeptanz kann nicht nach der Umsetzung von Technologien erwartet werden, sondern muss von Anfang an partizipativ einbezogen werden.
Einrichtung | Fachgebiet Fluidsystemdynamik - Strömungstechnik in Maschinen und Anlagen |
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