"Ich möchte das Thema Bauen mit Pilzen präsenter machen"

Mikrobiologin Prof. Dr. Vera Meyer über den Zunderschwamm als Ersatz für Styropor, den Weg zu einem emissionsfreien Bausektor und ihre neue Initiative „MY-CO PLACE“ am Ernst-Reuter-Platz

Frau Prof. Meyer, heute wird der Begegnungsort „MY-CO PLACE“ am Ernst-Reuter-Platz eröffnet. Die Veranstaltungen, die dort bis zum 31. Juli 2023 auf dem Programm stehen, werden sich viel um das Thema Pilze als Baumaterial drehen. Eine Ihrer Visionen ist, damit Häuser zu bauen. Wann wird mit dem ersten Pilzhaus zu rechnen sein?

Unser Ziel ist es, einen erstes Demonstratorhaus 2030 fertig zu haben. Es soll ein Holzhaus werden, das mit einem Material bestehend aus Pilzen und Pflanzenresten aus der Land- und Forstwirtschaft gedämmt sein wird. Mit diesem dämmenden Verbundstoff wollen wir Styropor, das auf der Basis von Erdöl hergestellt wird, ersetzen. Auch Rigipsplatten, die bislang für Innenwände verwendet werden, sollen durch Pilzmaterialien ersetzt werden. Der Grundgedanke, der dahintersteckt, ist folgender: Das Myzel der Pilze, die die entsprechenden Eigenschaften haben, um als Baumaterial eingesetzt zu werden, wird auf Stroh, Sägespänen, Rinde, Zweigen, Blattwerk, also auf Reststoffen, die in der Agrar- und Forstwirtschaft anfallen, in einem Bioreaktor kultiviert. Pilze und Reststoffe gehen dabei einen Verbund ein, Verbundstoff oder auch Komposit genannt.

Pilze sollen die bislang erdölbasierte Bauwirtschaft mit ihren enormen Mengen an CO2-Emissionen ablösen. Wird ein solches Haus komplett aus nachwachsenden Rohstoffen – also aus Holz, Pilzen und pflanzlichen Reststoffen – bestehen, oder wird man doch nicht ohne Beton und Stahl auskommen?

Es ist unser Ideal, künftig komplett auf Beton und Stahl zu verzichten. Aber auf dem Weg dahin wird man anfänglich noch mit Beton und Stahl bauen müssen – jedoch soll hier Bauschutt, der ja massenhaft durch den Abriss von Gebäuden anfällt, verwendet werden, also recycelter Beton und Stahl. Auf keinen Fall sollen die Pilzhäuser mit neu hergestelltem Beton und Stahl gebaut werden. Gemeinsam mit anderen Fachgebieten der TU Berlin und Berliner Citizen Scientists unter anderem vom Haus der Materialisierung verfolgen wir diese Ideen und forschen an Verbundstoffen aus Pilzen, Pflanzen, Bioplastik und recyceltem Beton. Einige der Objekte zeigen wir in MY-CO SPACE beziehungsweise im Berliner Futurium.

Welche Forschungsfragen müssen Sie in den nächsten Jahren an Ihrem Fachgebiet noch klären, damit 2030 das erste Pilzhaus als Demonstrator gezeigt werden kann?

Wir arbeiten mit dem Zunderschwamm, auf Lateinisch Fomes fomentarius. Er wächst hauptsächlich auf geschwächten oder toten Birken und Buchen. Sein Fruchtkörper ist komplett wasserabweisend, stabil und ultraleicht. Wir forschen derzeit daran, die Biologie und Genetik der Fruchtkörperbildung, die zu diesen Eigenschaften führen, zu verstehen. Dieses Verständnis ist die Voraussetzung dafür, um den Zunderschwamm im Labor mit genau diesen Eigenschaften kultivieren zu können. Daran schließen sich dann weitere Forschungsfragen an: Wie wächst er am schnellsten und besten auf den Reststoffen der Agrar- beziehungsweise Forstwirtschaft? Wie lassen sich seine Dämmeigenschaften verbessern, damit sie so gut sind wie die von Styropor, wie seine wasserabweisenden Eigenschaften, um ihn ebenfalls für Außendämmung zu verwenden? Und wie können wir sehr gute Biege- und Zugfestigkeiten erzeugen, damit der Verbundstoff auch für tragende Wände eingesetzt werden kann. Und nicht zuletzt: Wie entwickeln wir eine Prozesstechnik für die Kultivierung, damit sie auf den großindustriellen Maßstab skalierbar ist.

Es gibt sechs Millionen Pilzarten. Davon sind 120.000 erforscht. Wie sind Sie ausgerechnet auf den Zunderschwamm gekommen?

Sehr gute Frage. Wir verfolgen einen regionalen Ansatz, der jedoch weltweit funktioniert. Als erstes haben wir jene Pilze gesammelt, die in den brandenburgischen Wäldern vorkommen und im Labor untersucht, welche dieser Pilze am besten auf den in der Region Berlin-Brandenburg anfallenden Pflanzenreststoffen wie Rapsstroh, Hanf und Pappelspänen wachsen. Ungefähr 70 Pilzarten haben wir so isoliert. Das erfolgte übrigens in dem Citizen-Science-Projekt „Mind the Fungi“. Von diesen haben sich einige als sehr schnell wachsend erwiesen, unter anderem eben der Zunderschwamm. Der nächste Schritt war herauszufinden, welche Pilze weisen jene Eigenschaften auf, um als Baumaterial in Frage zu kommen – also wasserabweisend, dämmend, stabil und leicht – und da sticht der Zunderschwamm einfach hervor. Ein weiteres wichtiges Kriterium war, dass die Pilze, mit denen einmal gebaut werden soll, gesundheitlich unbedenklich sein müssen. Das Material kann sonst ja nicht zugelassen werden. Und auch dieses Kriterium erfüllt der Zunderschwamm, was nicht für alle 120.000 Pilzarten zutrifft, die bis dato erforscht wurden. Es gibt ein jahrhundertealtes Wissen über die dem Menschen zuträgliche Nutzung des Fomes fomentarius. Tees, Wundauflagen sogar Leder werden aus seinem Fruchtkörper hergestellt.

Wenn man durch Berlin läuft, kann man nicht erkennen, dass sich in der Baubranche ein sichtbares Umdenken vollziehen würde, die CO2-Emissionen zu senken. Vor den Baugruben drehen sich die großen Betonmischer weiter. Ein TU-Professor sagte unlängst sogar, „der Bausektor heute ist eigentlich noch in der Steinzeit“. Es wird spannend werden, ob Baumaterialien auf der Basis von Pilzen Beton und Stahl bis 2045 verdrängt haben werden – das Jahr, in dem Deutschland klimaneutral sein will.

Aufgrund des Klimawandels hat die Gesellschaft gar keine andere Chance, das Bauen und Wohnen komplett neu zu denken. Aber wenn Pilzhäuser einmal die Normalität sein sollen, müssen wir die Menschen mitnehmen. Und ‚MY-CO PLACE‘ will all jene zusammenzuführen, die mit Architektur, Bauen, Wohnen, Klimawandel, Stadt- und Umweltplanung zu tun haben. Mit ‚MY-CO PLACE‘ haben wir einen Ort, ein Stadtlabor geschaffen, in dem nicht nur die Kolleginnen und Kollegen meines Fachgebietes darüber berichten, welche Potenziale Pilze haben, sondern verschiedenste Akteure aus den genannten Bereichen werden zu Wort kommen. ‚MY-CO PLACE‘ versteht sich als Begegnungsstätte, Ausstellungsraum, Diskussionsplattform, Lernstation. Vor diesem Hintergrund ist der Ort auch ganz bewusst gewählt worden – zwischen TU Berlin und Universität der Künste auf dem Ernst-Reuter-Platz, also mitten in der Stadt, mit seinem schönen Springbrunnen und seiner schönen Bepflanzung. Wir werden mit Studierenden dort Seminare und Vorlesungen abhalten und es ist ausdrücklich gewünscht, dass Studierende und Forschende anderer Hochschulen sowie Berlinerinnen und Berliner, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben, daran teilnehmen. Ich möchte mit ‚MY-CO PLACE‘ das Thema Bauen mit Pilzen in der Öffentlichkeit sehr viel präsenter zu machen.

Das Interview führte Sybille Nitsche