Kicken vor leeren Rängen

Der Soziologe Dr. Michael Wetzels über Fußball in Stadien ohne Publikum

Herr Wetzels, vor der Corona-Pandemie waren Fußball und volle Fußballstadien eine untrennbare Einheit. Unvorstellbar, dass Fußball auch ohne Fans, ohne Zuschauer*innen möglich ist. Nun aber ist bereits die zweite Fußballsaison zu Ende gegangen – vor leeren Rängen. Was sagt Ihnen das, wenn Fußball in leeren Stadien stattfindet?

Es ist irritierend, weil wir eigentlich eine völlig andere Vorstellung von Fußballstadien haben. Wir haben uns so an die Fernsehbilder aus der 1. und 2. Fußball-Bundesliga mit vollen Tribünen gewöhnt, dass man sich nicht vorstellen konnte, dass Fußball ohne Zuschauer*innen, ohne Fans überhaupt möglich ist. Nun hat Corona gezeigt, dass es möglich ist. Fußball kann ohne Zuschauer*innen stattfinden. Was aber übrigens nichts Untypisches ist: Der Amateur*innenfußball in Berlin findet sehr oft vor leeren Tribünen statt. Da gibt es die bizarre Situation, dass die Spieler*innen auf dem Feld leeren Tribünen zuwinken.

Das heißt die Vorstellung, dass Fußball und ein Stadion mit Zuschauer*innen untrennbar miteinander verbunden sind, stimmt so gar nicht?

Was heißt, stimmt so nicht? Es hat sich so entwickelt. In der Soziologie würden wir von einer sozialen Konstruktion sprechen. Wenn man sich die Anfänge des modernen Fußballs Ende des 19. Jahrhunderts in England anschaut, da fanden die meisten Spiele zunächst ohne größeres Publikum statt. Das war ein Sport der Upper Class, er wurde an englischen Privatschulen und Universitäten gespielt. Das änderte sich erst nach und nach, in Deutschland erst richtig ab Anfang der 1920er-Jahre. Da wurde Fußball gesellschaftsfähig und löste Turnen als den Volkssport ab. Im Laufe der Zeit prägten die Fans dann die Aussage, sie seien der 12. Mann. Damit sagen sie aus, wir bilden eine Einheit mit unserem Team im Spiel gegen die gegnerische Mannschaft und deren Fans. Diese Einheit zwischen Team und Fans ist – wie gesagt – ein soziales Konstrukt, was erschaffen wurde, aber natürlich für die Fans real ist. Denn wenn Menschen eine Situation als real definieren, dann ist sie für sie auch real. Durch die Pandemie wurde aber diese Realität, dieses soziale Konstrukt ausgehebelt. Und die Fans vermissen natürlich ihr Stadion. Denn es ist schließlich auch ihre Heimat.

Sie haben sich wissenschaftlich mit Fußballstadien beschäftigt? Was wollten Sie erforschen?

In meiner Doktorarbeit „Affektdramaturgien im Fußballsport“, in der ich mich mit kollektiven Emotionen im Fußball beschäftigte, kam ich nicht umhin, mich auch mit den Stadien auseinanderzusetzen. Denn es sind die Orte, wo diese kollektiven Emotionen sichtbar werden. Ich kam zu der Erkenntnis, dass man Fußballstadien braucht, um Ekstase, Jubel oder Enttäuschung zu produzieren und auch verstehen zu können.

In Ihrem Blog-Beitrag für den Sonderforschungsbereich „Re-Figuration von Räumen“ heißt es, dass Fußballstadien Orte der Polykontexturalität sind. Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass es unterschiedliche Lesarten von diesem Ort, einem Fußballstadion gibt, also unterschiedliche Sichtweisen. Nehmen wir als Beispiel das Berliner Olympiastadion. Es wird als Fußballstadion genutzt und ist auch so einer breiten Masse bekannt. Aber im Namen steht „Olympia“. Das heißt, es ist architektonisch gesehen kein „reines“ Fußballstadion, sondern auch für andere Sportarten, wie zum Beispiel Leichtathletik gebaut und nutzbar. Darüber hinaus finden auch viele andere Events wie Konzerte in diesem Gebäude statt. Dieses Stadion ist also vieles. Es kann räumlich vielschichtig gelesen und unterschiedlich genutzt werden – das ist mit Polykontexturalität gemeint.

Dann bleib ich mal bei der Lesart, Fußballstadien sind Heimat – so wie Sie es auch in Ihrem Blog-Beitrag schreiben. Ist dieses Heimat- und Zusammengehörigkeitsgefühl durch Corona nicht in Frage gestellt worden, weil die Vereine ohne Zuschauer, ohne Fans weiterspielten? Sendeten die Vereine damit nicht die Botschaft aus: Liebes Publikum, Fußball funktioniert auch ohne euch. Wie sehen Sie das?

Nun, das ist eine Lesart. Und es mag vielleicht auch Fans geben, die das so empfunden haben. Dass sich Lesarten, Sichtweisen zwischen Fans und dem Management der Vereine unterscheiden – das gab es auch schon vor Corona. Ich erinnere nur an die Geschichte, als die Hertha-Hymne „Nur nach Hause“ von Frank Zander durch den Song „Dickes B“ von Seeed abgelöst werden sollte. Es formierte sich seitens der Hertha-Fans starker Protest gegen die Verantwortlichen des Vereins, die ja das Lied ändern wollten. Schließlich akzeptierte das Management den Willen der Fans. Es blieb bei der alten Hymne. Aber zurück zu Fußball in Zeiten von Corona.

Ja.

Also, es mag sein, dass Fans es als brüskierend empfunden haben, dass das Fußballgeschäft ohne sie weiterging. Andere wiederum haben die Notwendigkeit eingesehen, dass sowohl die Stadien leer bleiben müssen, um das Virus nicht zu verbreiten, als auch weitergespielt werden muss, um die wirtschaftliche Existenz der Vereine nicht zu gefährden. Auch hier stoßen wir wieder auf unterschiedliche Lesarten von Räumen, die aber aus den jeweiligen Sichtweisen ihre Berechtigung haben.

Dann wage ich einmal eine Lesart von Stadien hervorgerufen durch die Pandemie. Fußballstadien – so wie wir sie bislang kannten – sind bloße Hüllen geworden, weil Fußball auch ohne Publikum gespielt werden kann. Diese Stadien verbrauchen zudem in ihrer Unterhaltung enorme Ressourcen. Das kostet Geld und das könnte man sich sparen. Man könnte ja auch sagen: gepflegter Rasen, zwei Tore, Randbegrenzung, Schiedsrichter – fertig, aus.

Spannende Frage. Nur gibt es eben dieses soziale Konstrukt, das da lautet: Fußball und Fans in Stadien – das gehört zusammen. Und dieses Konstrukt ist auch durch eine Pandemie nicht einfach so aufzulösen. Soziale Konstruktionen sind sehr langlebig. Sie haben sich über Jahrzehnte, wenn nicht über Jahrhunderte etabliert. Man tut etwas, und man ist gewöhnt, es in der von uns gebauten Welt so zu tun. Darum haben wir sie ja so gebaut und nicht anders. Und das gilt auch für Stadien. Hinzu kommt, dass diese, wir sprachen bereits darüber, als Heimat, als zweites Wohnzimmer „gelesen“ und empfunden werden. Im Stadion vom 1. FC Union las ich einen Zettel an einem Wellenbrecher, das ist eine Abschrankung auf den Stufen von Stehplatztribünen, folgenden Satz: ‚Hier stehen Gitty und Herbert‘. Gegen eine solche Form von emotionaler Zugehörigkeit kommen Sie mit einer so rationalen Lesart, wie Sie sie beschreiben, nicht an.

Was kann das Wissen darüber, dass es viele unterschiedliche Lesarten von Orten gibt, befördern?

… dass es nicht die eine wahre, richtige Lesart beziehungsweise Sicht gibt. Man sollte sich davon distanzieren, und vor allem warne ich davor zu pauschalisieren. So wie wir uns vor Corona nicht vorstellen konnten, dass man Fußball auch ohne Zuschauer und Fans spielen kann, sollte man jetzt nicht den Schluss ziehen: Fußball geht auch ohne Publikum.

Das Interview führte Sybille Nitsche.

Weiterführende Informationen

Blog-Beitrag „Ein Gefühl von Heimat – Stadien als Orte von Polykontexturalität