Am 2. Juli 2021 wurde der Grundstein gelegt für das Forschungszentrum „Der Simulierte Mensch“ (Si-M). Ab dem Jahr 2023 werden Wissenschaftler*innen von Charité – Universitätsmedizin Berlin und TU Berlin darin gemeinsam an der Schnittstelle von Medizin und Ingenieurwissenschaften forschen. Entworfen wurde das Gebäude vom Architekturbüro HDR Germany, federführend betreut vom Berliner Büroleiter Joel Hahn. Im Interview erzählt dieser, wie das erste neue Gebäude auf dem Bio- und Medizintechnologie-Campus im Wedding funktioniert, was es mit dem „Theatron“ als Herzstück des Hauses auf sich hat und was Wissenschaft und Architektur gemeinsam haben.
Herr Hahn, das Architekturbüro HDR Germany hat nicht nur das Si-M entworfen, sondern scheint Forschungsgebäude am laufenden Band zu produzieren. Das Fraunhofer-Institut für Kognitive Systeme in München, ein Helmholtz-Studienzentrum in Hannover, das Frankfurt Cancer Institute. Ich könnte noch weitermachen. Haben Sie ein Patentrezept für Forschungsbauten gefunden?
Nein, ganz sicher nicht. Natürlich haben Forschungsbauten ein paar Gemeinsamkeiten. Wir müssen immer die komplexen Anforderungen der Labortechnik beachten. Und wir schauen darauf, dass das Gebäude Raum bietet für die Kommunikation unter den Forschenden. Aber darüber hinaus sehe ich unsere Arbeit eigentlich als das genaue Gegenteil eines Patentrezepts.
Wie meinen Sie das?
Sehen Sie, wenn wir eine Ausschreibung gewonnen haben und dann viele Exceltabellen auf dem Tisch liegen mit den genauen Angaben zu Räumen und Ausstattung, dann können wir trotzdem nicht einfach losplanen. Eigentlich startet dann erst der Prozess, gemeinsam mit der Bauherr*in und den Nutzenden auszuloten, welche Bedürfnisse tatsächlich bestehen und wie das Gebäude sie am besten erfüllt.
Dann hängt der Erfolg bei einem Architekturwettbewerb daran, gute Hypothesen über die wahren Bedürfnisse der Auftraggeber*in anzustellen?
Genau. Nehmen Sie zum Beispiel den Standort des Si-M auf dem Grundstück an der Ecke von Amrumer Straße und Seestraße im Ortsteil Wedding. Hier soll ja ein Bio- und Medizintechnologie-Campus von Charité und TU Berlin entstehen mit mehreren Gebäuden. Dem Si-M kommt da eine besondere Bedeutung zu. Es wird gemeinsam von beiden Institutionen betrieben, steht also auch symbolisch für diesen Gemeinschaftscampus. Als erstes neues Gebäude soll es laut Ausschreibung zur positiven Adressbildung des Geländes beitragen. Da liegt es natürlich nahe, das Si-M als Leuchtturm gut sichtbar an einer Ecke des Grundstücks zu platzieren.
So wie das auch alle anderen von der Jury prämierten Entwürfe getan haben.
Und jetzt ist die Frage: Um was geht es eigentlich? Eigentlich geht es doch darum, ein harmonisches Gefüge für diesen ganzen Campus zu schaffen. Das Si-M sollte dabei als Entrée für diesen Campus funktionieren, als Tor, wenn Sie so wollen, für einen Raum im Inneren. Das geht aber nicht, wenn es selber an einer Ecke liegt! Wir haben da intern lange drüber diskutiert und uns schließlich dafür entschieden, das Si-M mit quadratischem Grundriss zu entwerfen und mittig an der Grenze zur Amrumer Straße zu platzieren. Zusammen mit dem ausschließlich von der Charité betriebenen Gebäude BeCAT, das etwas kleiner ist und jetzt gemeinsam mit dem Si-M errichtet wird, bildet es bereits einen Raum. Der Campus ist also schon da, auch wenn die restlichen Gebäude noch nicht stehen.
Ein quadratischer Bau ist ja vielleicht nicht besonders spannend. Das Si-M hat aber eine abwechslungsreiche Fassade. Welches Prinzip steckt dahinter?
Da würde ich widersprechen. Eine geometrische Reduktion, und insbesondere die ungerichtete Form des Quadrats oder Würfels, kann gerade eine besondere Wirkung entfalten. Zum Beispiel das Augenmerk auf die Fassade lenken. Wir verwenden für jedes Stockwerk fünf verschiedene Glasfaserbeton-Elemente unterschiedlicher Breite, die wir zudem unterschiedlich dicht anordnen. Zwischen den Elementen ist jeweils Glas. Dort, wo das Gebäude sich öffnen soll, also an der Eingangsseite zu den Besucher*innen hin, sind die Abstände und damit die Glasflächen sehr groß und geben viel vom Inneren preis. An anderer Stelle, an den Treppenhäusern zum Beispiel oder auch bei einigen Laboren, stehen die Elemente dagegen viel dichter beieinander. Das macht auch technisch Sinn, denn durch eine kleinere Fensterfront können wir die Labore leichter thermisch konstant halten, was für die Experimente oft notwendig ist.
Nehmen wir mal an, ich stehe jetzt vor der einladenden Fensterfront und gehe in das Si-M hinein. Was erlebe ich da?
Wenn das Wetter schön ist, haben Sie vielleicht schon vorher etwas erlebt, nämlich einen Kaffee auf der Terrasse des Bistrots im Erdgeschoss getrunken. Das Spannende am Si-M ist ja, dass es dezidiert den Kontakt mit der Öffentlichkeit sucht. Dem widmen sich das Erdgeschoss und der erste Stock, hier sollen Ausstellungen, Workshops und Vorträge stattfinden. So kann jeder mit Wissenschaftler*innen ins Gespräch kommen. Herzstück für diesen Austausch ist das sogenannte Theatron in der Mitte des Erdgeschosses. Aber bevor Sie da hinein gehen, wird Ihr Blick vermutlich erstmal an den freischwebenden, geschwungenen Treppen hängen bleiben, die sich bis nach oben in den vierten Stock winden, hin zu einem als Oval ausgeschnittenen Glasdach. Vielleicht gehen Sie auch die Treppe in den ersten Stock herauf, um diese zusätzliche Gebäudeachse wirklich zu erfahren. Ein Haus mit Labornutzung derart tief betreten und erleben zu dürfen, ist absolut außergewöhnlich. Nicht selten erfolgt bei dieser Nutzungsart die Zutrittskontrolle bereits am Eingang. Eine tolle Entscheidung der Nutzenden und ein Game Changer für die Rezeption von Forschungsgebäuden im städtischen Raum.
Verträgt sich denn so viel Offenheit mit der ja auch sensiblen, hochtechnologischen Forschung in den oberen drei Stockwerken? Oder werden da lauter Security-Leute stehen?
Nun, wir lassen einfach die Treppe in den zweiten Stock aus (lacht).
Und da kommt man dann nur mit dem Fahrstuhl hin?
Ja, oder halt über die Treppenhäuser in den Ecken, die wie die Fahrstühle über eine Zugangskontrolle verfügen.
Und die fehlende Treppe sieht von unten nicht komisch aus?
Wir haben da wirklich drüber gebrütet und extra Modelle gebaut. Aber es ist phänomenal, Sie sehen das nicht. Von unten haben Sie den Eindruck, dass sich die Treppe durchgehend bis nach oben zieht. Wir waren sehr froh, dass das so gut klappt, denn natürlich brauchen die Forschenden auch einen geschützten Raum. Da muss man mal sein Smartphone oder Notebook irgendwo liegen lassen können, ohne Angst zu haben, dass es geklaut wird. Nur so kann man sich ein Gebäude überhaupt aneignen und sich zu Hause fühlen.
Möglichkeiten zum Liegenlassen wird es wohl einige geben, es sind ja auch Bereiche für die Begegnung der Forschenden untereinander geplant.
Über die haben wir mit den Auftraggeber*innen ebenfalls sehr intensiv diskutiert. Es sollen hier ja nicht nur Menschen aus zwei Institutionen gemeinsam arbeiten, sondern auch zwei akademische Welten zusammenkommen: Mediziner*innen und Ingenieur*innen. Es wird natürlich Teeküchen geben, Sitzgelegenheiten und sehr viele bespielbare Wandflächen, an die Poster gehängt werden können, auch beschreibbare Glasflächen für Diskussionen. In der Ausgestaltung wollen wir einen Kontrapunkt setzen zum hochtechnisierten Ambiente der Sicherheitslabore. Also viel Holz, Stoff, kräftige Farben, Kaffeegeruch...
Jetzt fahre ich mit dem Fahrstuhl aber runter und schaue mir das Theatron an. Wie würden Sie das beschreiben?
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Däumling auf einer Wiese, und vor Ihnen liegt ein Schneckenhaus im Gras, mit der Öffnung zu Ihnen. So ungefähr sehen Sie das Theatron vom Eingang aus. Es liegt etwas abgesenkt im Erdgeschoss. Das Besondere ist, dass der oder die Vortragende nicht wie sonst üblich vorne steht, sondern in der Mitte. Das Publikum sitzt im Kreis drumherum und kann die Präsentation auf mehreren Bildschirmen an den Wänden verfolgen.
Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Tatsächlich hatte Professor Roland Lauster von der TU Berlin, einer der beiden Initiatoren des Si-M, diese... Vision muss man fast schon sagen. Er hatte den runden Vortragssaal des Architekten Olaf Andreas Gulbransson an der Evangelischen Akademie Tutzing erlebt und festgestellt, dass damit Diskussionen unter den Besucher*innen einer Veranstaltung wesentlich schneller und besser zustande kommen. Wir sind sehr dankbar, dass mit dem Theatron das Gebäude ein zusätzliches Alleinstellungsmerkmal bekommt. Und sehr gespannt, wie dieser Saal dann bespielt werden wird.
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Jetzt haben wir viel davon geredet, wie Architektur sich positiv auswirken kann auf die Wissenschaft, die in ihr stattfindet. Deshalb zum Schluss die Frage: Wie wirkt sich denn Wissenschaft auf die Architektur aus?
Einerseits bekommen wir als Architekt*innen durch neue Werkstoffe und Konstruktionsverfahren natürlich mehr kreative Möglichkeiten. Hier gibt es also Impulse aus der Materialforschung und den Ingenieurswissenschaften. Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir aber auch eine Parallele auf zwischen der Entwicklung in den Wissenschaften und der in Architekturbüros, zum Beispiel unserem. In der Wissenschaft sind es ja vermehrt Teams, die Entdeckungen machen, und immer weniger einzelne Koryphäen. Auch wir suchen auf breiter Basis nach Lösungen, immer im Team. Wir sind ein Unternehmen in Mitarbeiter*innenhand, also nicht inhaber*innengeführt, es gibt nicht das eine Architektur-Genie als Aushängeschild. Und das ist durchaus ein Trend. Wissenschaft und Architektur spiegeln hier vermutlich eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung – und das finde ich sehr gut so.
Das Gespräch führte Wolfgang Richter.