Forschen im Paradies

Gastprofessorin Lisa Graichen über ihre Erfahrungen im TU-Programm „Joint Programmes for Female Scientists & Professionals“

Wenn Andere eine Frage in der Länge einer Vorlesung beantworten, dann genügen Lisa Graichen zwei, drei Sätze und auch diese sind kurz und knapp. Girlandensätze sind ihre Sache nicht. Wäre sie Schriftstellerin, schriebe sie sicherlich Shortstorys, keine ziegelschweren Romane. Doch als sie gefragt wird, was sie an der Gastprofessur im TU-Programm „Joint Programmes for Female Scientists & Professionals“ reizvoll fand, sodass sie sich bewarb, gerät die so nüchtern wirkende 32-Jährige mit dem sportlichen Kurzhaarschnitt ins Schwärmen. Diese Gastprofessur sei ein Glücksfall, Freiheit pur: keine Vorgaben, kein Zeitdruck, keine Fremdbestimmung, man könne sich nach Lust und Laune Dinge ausdenken und ganz aus sich selbst schöpfen. Es klingt, als sei sie im Paradies gelandet. „Es ist das Paradies“, sagt sie.

Diese grenzenlose Freiheit, die die Gastprofessur bietet, offenbart jedoch, wie ideenreich jemand wirklich ist. Und das ist sie, die IT-Projektleiterin und User-Experience-Spezialistin bei BMW in München. Sechs Studien hat sie seit Beginn ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit im September 2021 im Rahmen der Gastprofessur an der TU Berlin auf den Weg gebracht – darunter eine Studie zur Gestensteuerung in VR-Brillen. Bislang beschäftigte sie sich mit der Gestensteuerung nur in Fahrzeugen; es war auch das Thema ihrer Dissertation an der TU Chemnitz. „Darin konnte ich nachweisen, dass die Ausführung von sekundären Tätigkeiten im Auto wie die Bedienung des Radios oder die Steuerung des Navis durch Gesten die Sicherheit erhöht. Die Autofahrerin muss nicht mehr den Blick von der Straße wenden, um auf den Touchscreen zu schauen oder Knöpfe zu suchen. Gerade in kritischen Situationen kann diese hundertprozentige Konzentration auf das Verkehrsgeschehen wichtig sein. Nun wollte ich die Gestensteuerung einmal in einer anderen innovativen Technologie wie den VR-Brillen testen und Grundlagen für den dortigen Einsatz erarbeiten“, erklärt Lisa Graichen.

Strukturiert, verlässlich, einfühlsam

Lisa Graichen studierte in Chemnitz und Leipzig Psychologie und ging nach dem Studium nach München zu BMW. Es war ihr Wunsch, da sie das Unternehmen schon während ihres Studiums kennengelernt hatte und von der Professionalität beeindruckt war. Sie beschäftigt sich mit der agilen Entwicklung von IT-Anwendungen. Im internationalen Kontext bedeutet das, schnell auf geänderte Anforderungen zu reagieren, die Teamarbeiten zu koordinieren und dabei insbesondere die Nutzerfreundlichkeit im Blick zu behalten.

Dass sie dort hinpasst und über alle Voraussetzungen verfügt, um große und kleine Projekte zu leiten, spürt man bereits nach einer halben Stunde des Gesprächs. Sie wirkt absolut strukturiert, schiebt Dinge wahrscheinlich selten auf die lange Bank und mag es bestimmt nicht, wenn Termine und Absprachen unkommentiert übergangen werden. Auf die Frage, ob der Eindruck stimmt, nickt und lacht sie, ergänzt jedoch. „Wenn ich jetzt sehr streng und kühl erscheine, so bin ich aber auch jemand, dem ein menschliches Miteinander wichtig ist. Bevor ich urteile, eine Entscheidung fälle, frage ich immer nach den Gründen, warum Aufgaben nicht gelöst wurden.“

Wissenschaft am Frühstückstisch

Ein Motiv, sich für die Gastprofessur zu entscheiden und für ein Jahr wieder in die Welt der Wissenschaft einzutauchen, war auch, dass die Beschäftigung mit der Wissenschaft zu ihren Hobbys zählt. „Mich faszinieren wissenschaftliche Visionen und der forschende Wille, sie zu verwirklichen, um beispielsweise bislang unheilbare Krankheiten heilen zu können“, sagt Lisa Graichen. Ihre wissenschaftliche Neugier teilt sie mit ihrem Mann. Wenn andere Paare am Frühstückstisch sich schweigend gegenübersitzen oder der Partner die Konsistenz des Frühstückseis moniert, liest sich das Paar Graichen beim Morgenkaffee neue wissenschaftliche Studien vor – Diskussion darüber inklusive.

Eine wissenschaftliche Karriere an einer Universität kommt für sie unter den jetzigen deutschen Gegebenheiten dennoch nicht in Frage. Wenige Wochen nach dem Mauerfall 1989 im sächsischen Burgstädt geboren, hat sie als heranwachsendes Kind und Jugendliche im familiären und Freundeskreis erlebt, zu welchen existenziellen und psychischen Verheerungen die Arbeitslosigkeit bei den Menschen im Osten führte. „Mit sozialer Unsicherheit kann ich nicht umgehen“, gibt sie kurz und knapp zu „Protokoll“. Die im deutschen Wissenschaftsbetrieb üblichen befristeten Verträge sind für sie deshalb keine Option.

Autorin: Sybille Nitsche