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Mobilität

Kiezblocks versus Blech und Lärm

Wie das Komponistenviertel vom Durchgangsverkehr befreit werden soll

Mehr als 6000 Kraftfahrzeuge nur an einem Tag auf einer Nebenstraße. Sich blockierende Autos, weil die Straßen zu eng sind. Bis zu 50 Prozent Autoverkehr durch Menschen, die gar nicht im Komponistenviertel wohnen. In zwei Jahren mehr als 1000 Verkehrsunfälle mit Sachschäden und Verletzen, davon 14 schwer, und besonders für Kinder schlechte Sichtverhältnisse beim Überqueren der Straßen wegen zugeparkter Straßen – kurz: Blech, Lärm, Stress. Und das alles, weil Autofahrer*innen keine Lust haben auf den Hauptverkehrsstraßen wie der Berliner Allee und der Indira-Gandhi-Straße im Stau zu stehen und deshalb die Straßen im Komponistenviertel als Schleichwege benutzen.

2020 war die Situation für die Anwohner*innen im Viertel in Weißensee wegen des Durchgangsverkehrs untragbar geworden. Eine Lösung musste her. Die fand sich im Mobilitätsbericht und hieß Kiezblock. „Kiezblocks sind städtische Wohnquartiere ohne Durchgangsverkehr, mit Tempolimit, Fahrrad- und Spielstraßen sowie einladend gestalteten Straßenräumen mit viel Grün“, sagt die Professorin für Integrierte Verkehrsplanung Christine Ahrend. An deren Fachgebiet wurde der Mobilitätsbericht unter Leitung von Oliver Schwedes zusammen mit der TU Dresden und dem Bezirksamt Pankow erarbeitet.

Acht neue Einbahnstraßen

Im Sommer dieses Jahres nun wurden die ersten Maßnahmen, die den Durchgangsverkehr aus Komponistenviertel verbannen sollen, umgesetzt: Die am meisten als Schleichweg benutzte Bizetstraße wurde als Fahrradstraße ausgewiesen und acht zusätzliche Einbahnstraßen angelegt. All das geschah nicht über die Köpfe der Anwohner*innen hinweg, sondern wurde in einem intensiven Diskussionsprozess mit ihnen ausgehandelt. Die Einbindung der Bevölkerung von Beginn an ist auf die wissenschaftliche Begleitung durch die TU Berlin und die TU Dresden, aus dem Komponistenviertel einen Kiezblock zu machen, zurückzuführen. „Um nicht an den Bedürfnissen der Menschen vorbeizuplanen und höchstmögliche Akzeptanz zu schaffen und die Betonung liegt auf höchstmöglich, denn eine hundertprozentige Zustimmung zu erhalten ist Illusion und führt letztendlich zum Nichtstun, wurde auf unseren Vorschlag hin ein Projektbeirat aus 14 Leuten eingerichtet. Diese repräsentieren die extrem unterschiedlichen Ansprüche an Mobilität im Viertel – die von Handwerkern, Gewerbetreibenden, Jugendlichen, Seniorinnen, Menschen mit Migrationsbiografie und Behinderungen, von enthusiastische Radfahrern genauso wie von bekennenden Autofahrern“, erläutert Christine Ahrend.

Neben dem Kiezblock finden sich im Mobilitätsbericht viele weitere praktische Handlungsvorschläge, um Verkehr umwelt- und ressourcenschonend, gesund und sicher, vielseitig und sozial gerecht zu gestalten. Die Vorschläge reichen von der Einführung eines betrieblichen Mobilitätsmanagements, der Priorisierung von Rad- und Fußverkehr in Um- und Neubaugebieten sowie deren gute Erschließung durch den ÖPNV von Beginn der Planung an, über geschützte Radwege auf allen Hauptstraßen bis hin zur unpopulären, aber notwendigen Umwidmung von Parkplätzen.

Ganzheitlicher Einsatz

„In unserem datenbasierten Mobilitätsbericht werden nicht mehr nur die fünf unterschiedlichen Verkehrsträger Pkw, Bahn, Bus, Rad und Fußgänger integrierend betrachtet, sondern Verkehrsplanung wird als ein Querschnittsthema verstanden, das die Stadt- und Umweltplanung genauso tangiert wie die Gesundheits- und Sozialplanung. Wissenschaftlich fundiert geht er somit über herkömmliches integrierendes verkehrsplanerisches Denken hinaus, weil er die Auswirkungen von Verkehr auf Klima, Natur, Gesundheit und soziale Teilhabe mitdenkt. Und ambitioniert anwendungsorientiert gibt er den betreffenden Akteur*innen in der Verwaltung Instrumente wie die Kiezblock-Idee an die Hand“, sagt die Verkehrswissenschaftlerin und ergänzt: „Dass das Bezirksamt Pankow sich auf diesen ganzheitlichen Ansatz eingelassen hat und daran arbeitet, ihn umzusetzen, ist weitsichtig und mutig und für unsere wissenschaftliche Arbeit wichtig. Wir benötigen die Erfahrungen aus der Praxis.“

Städtischen Raum teilen

Anderenorts auf politischer Ebene in Berlin vermisst Christine Ahrend diesen Mut. „Der Stopp von fünf geplanten und angeordneten Radwegen durch die Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt ist aus fachlicher verkehrswissenschaftlicher Perspektive nicht begründbar“, sagt die Verkehrsexpertin. Diese Entscheidung knapp nach Amtsantritt der neuen Berliner Regierung sei eine Geringschätzung all des Fachwissens und Engagements von Bürger*innen, die an diesen Plänen Jahre mitgearbeitet haben, und beschädige partizipative Verfahren. Man könne den Eindruck bekommen, dass dem neuen Berliner Senat partizipative Verfahren egal seien. Auch werde die Berliner Politik nicht umhinkommen, den Autofahrer*innen zu sagen: „Die Zeiten, dass der städtische Raum vorrangig von Autos okkupiert wird, sind vorbei. Ihr müsst teilen.“

Vorbild Spanien

Die Kiezblocks gehen auf die aus Barcelona stammenden Superblocks zurück. Neun Häuserblocks werden zu einem Superblock zusammengefasst, der weitgehend autofrei ist. Fußgänger und Fahrradfahrer haben Vorrang. Auf den Einbahnstraßen dürfen die Autos maximal 20 Kilometer pro Stunde fahren. 2017 wurde der erste Superblock eingerichtet. Auch die baskische Stadt Vitoria-Gasteiz wurde nach dem Superblock-Prinzip umgestaltet.

Autorin: Sybille Nitsche