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Die neue Tischkultur

BUA-gefördert: Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen entwickeln Ideen für eine gesellschaftlich verträgliche Zukunft der Ernährung.

Ernährung ist auch eine soziale Frage. Im von der BUA geförderten Projekt „Inklusiver Wandel des Ernährungssystems – nachhaltig, gesund, gemeinsam“ entwickeln Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen Ideen für eine gesellschaftlich verträgliche Zukunft der Ernährung – von kultiviertem Fleisch als neuer Proteinquelle bis zu Strategien für eine Schulverpflegung, von der alle Kinder profitieren.

So also sieht eine Proteinquelle der Zukunft aus. Eine blaue Plastikdüse spritzt blassrosafarbene, gummiähnliche Fäden auf den Boden einer Petrischale. Eine Doktorandin in weißem Laborkittel überwacht die präzisen Bewegungen der Kartusche. Was sich vor ihren Augen im 3D-Drucker materialisiert, eine Waffelstruktur in der Größe einer Briefmarke, soll als Stütze dienen für kultiviertes Fleisch. Fleisch also, das in einem Brutschrank heranwächst statt im Stall. Hühnerzellen heften sich an diese Struktur an, vervielfältigen sich in der Wärme eines Inkubators und nehmen ihre Funktionen als Muskelzellen an – was entscheidend ist für das Gefühl, in echtes Fleisch zu beißen. 

Bisher brauchte es für die Stützstruktur tierische Gelatine und Kälberserum. Lisa Franke will sie nun rein pflanzlich herstellen. „Sie entsteht vollkommen tierleidfrei aus Erbsen- oder Sojaproteinen und Alginat“, sagt die Doktorandin, die ihre Promotion am Fachgebiet Lebensmittelbiotechnologie und -prozesstechnik der TU Berlin der Produktion von kultiviertem Fleisch als neuer Proteinquelle widmet. Wenn das gelingt, kann die Herstellung von Fleisch künftig ganz ohne die Beteiligung echter Tiere geschehen, denn die Hühnerzellen selbst lassen sich in der Petrischale endlos vermehren. Doch es gibt noch viele Stellschrauben zu optimieren: Wie hoch sollte der Druck der Düse sein, damit die Stützstruktur optimal ist? Wie flüssig die „Tinte“? Ist ein Waben- oder Waffelmuster geeigneter? Und welche Zusammensetzung von Dickungsmittel und Nährlösung braucht es, damit die Zellen sich wohlfühlen und in gewünschter Qualität zu einem Fleischprodukt heranwachsen, das eine Zulassung als sicheres Lebensmittel bekommen kann? 

Kultiviertes Fleisch ist ein verheißungsvolles Nahrungsmittel der Zukunft. Steaks oder Schnitzel aus dem Labor könnten helfen, drängende Probleme unseres Ernährungssystems zu lösen. Etwa den hohen CO2-Fußabdruck sowie Land- und Wasserbedarf der Tierhaltung zu verringern, die Ernährungssicherheit zu erhöhen sowie Tierleid und schlechte Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie zu vermeiden. Pflanzenbasierte Fleischersatzprodukte aus Erbsen oder Soja haben sich auf dem Markt bereits etabliert, sie werden am Fachgebiet weiterentwickelt. Kultiviertes Fleisch jedoch könnte wegen seiner authentischeren Konsistenz und des erwartbaren Geschmacks künftig noch mehr Leute dazu bewegen, auf echtes Fleisch zu verzichten. Noch steht die Zukunftstechnologie jedoch am Anfang: Erste In-Vitro-Burger-Patties gab es zwar schon 2013, doch über Hackfleisch und kleinere Fleischstückchen geht die Entwicklung bislang nicht hinaus. „Viele arbeiten weltweit daran, das dicke Rindersteak mit Fett und allem zu züchten, aber noch hat das niemand geschafft, weil es dafür auch Blutgefäße bräuchte, um die Zellen im Innern zu versorgen“, sagt Prof. Dr.-Ing. Cornelia Rauh, die das Fachgebiet Lebensmittelbiotechnologie und -prozesstechnik an der TU Berlin leitet, eines der wenigen in Deutschland, das sich mit der Kultivierung von Fleisch befasst.

Wer wird sich kultiviertes Fleisch überhaupt leisten können?

Statt allein auf technische Optimierung zu schauen, fragen Cornelia Rauh und die Doktorandin Lisa Franke auch nach den sozialen Auswirkungen ihrer Forschung. Ihr Projekt zu kultiviertem Fleisch ist eine von insgesamt sechs Fallstudien des BUA-Projekts „Inklusiver Wandel des Ernährungssystems – nachhaltig, gesund, gemeinsam“, das den Einfluss von Ernährung und nahrungsbezogenen Gesundheitsfragen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt analysiert. Über zahlreiche Fachdisziplinen und alle vier BUA-Institutionen hinweg befassen sich rund 20 Wissenschaftler*innen in den Fallstudien mit der sozialen Dimension von Ernährungsgewohnheiten, regionalen Wertschöpfungsketten, Schulverpflegung und neuen Lebensmitteltechnologien – und erarbeiten konkrete Vorschläge zu ihrer Verbesserung. 

„Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie man eine Innovation wie kultiviertes Fleisch weiterentwickeln kann“, sagt Rauh. „Welchen Pfad wir im Labor einschlagen, ist immer auch eine Frage mit gesellschaftlicher Tragweite. Wenn ich mich im Labor nur auf die letzten Stellschräubchen für Textur und Geschmack von kultiviertem Fleisch stürze, aber das große Ganze außer Acht lasse, besteht die Gefahr, dass meine Innovation am Ende nicht den gesellschaftlichen Mehrwert hat, den sie haben könnte.“Wie zum Beispiel muss kultiviertes Fleisch hergestellt werden, um in der Gesellschaft breit akzeptiert zu werden? Wer wird es sich leisten können? Und wer wird ausgeschlossen?

Um solche Fragen zu beantworten, die weit über den klassischen ingenieurwissenschaftlichen Blickwinkel hinausgehen, kooperieren die Lebensmitteltechnikerinnen auf dem Campus Dahlem der TU Berlin im Rahmen des BUA-Projekts mit der Innovationsforscherin Dr. Dagmara Weckowska von der FU Berlin. Auf der Grundlage aller verfügbaren technischen Details ermittelt Weckowska, welche Auswirkungen kultiviertes Fleisch auf die Gesellschaft haben könnte. „Ökologische Aspekte werden häufig schon betrachtet; wir wollen verstehen, wie solche Innovationen inklusiv sein können, wann sie die Menschen vereinen oder eher trennen, wer gewinnt und wer verliert.“ 

Weckowska hat eine Methode entworfen, mit der sich potenzielle soziale Effekte von Innovationen schon während deren Entwicklung identifizieren lassen. Macht eine technische Detailentscheidung wie die Zusammensetzung der Stützstruktur oder Nährlösung das Endprodukt sozial verträglicher oder nicht? Viele Wissenschaftler*innen, Unternehmer*innen, Investor*innen und Politiker*innen, die Innovationen ermöglichen, sind sich der Konsequenzen technischer Lösungen nicht hinreichend bewusst. „Wir geben ihnen ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie informierte Entscheidungen treffen können“, sagt Weckowska. Um ihren „Innovationsradar“ zu entwickeln, hat sie sich innerhalb des BUA-Projekts auch intensiv mit Soziolog*innen und Politikwissenschaftler*innen ausgetauscht. Mit Expert*innen aus Wissenschaft und Industrie will sie das Tool nun einem Realitätscheck unterziehen. „Was sich schon abzeichnet, ist, dass Kompromisse nötig sind, denn eine günstige Produktion, die ein erschwingliches Produkt zur Folge hätte, könnte zugleich die Akzeptanz verringern“, sagt Weckowska. Tierische Bestandteile in der Nährlösung zum Beispiel können nach Ansicht mancher die Produktionskosten senken, werden aber in der Gesellschaft längst nicht von allen als wünschenswert angesehen.

Cornelia Rauh sieht einen Mehrwert des BUA-Projekts genau in diesem Austausch – über Fächer und über die Grenzen der akademischen Welt hinweg. „Wir lernen alle sehr viel voneinander, weil wir komplett andere Fragen stellen“, sagt Rauh. Diese integrierte Perspektive ist quasi in die DNA des BUA-Projekts eingeschrieben. Die Forscher*innen von TU Berlin, HU Berlin, FU Berlin und Charité – Universitätsmedizin Berlin wollen sozialen Zusammenhalt, Ernährung und Gesundheit erstmals als eine Einheit betrachten. Das erfordert, dass Fachgrenzen durchlässig werden, Sozial-, Wirtschafts-, Gesundheits-, Agrar- und Ingenieurwissenschaftler*innen sich nicht nur ergänzen, sondern eine gemeinsame Sprache entwickeln.

Gemeinsames Schulessen als neue Normalität

In der Kantine der Ernst-Reuter-Schule, einer Sekundarschule in Berlin-Mitte, sitzt an einem Dienstagnachmittag eine bunt gemischte Gruppe zusammen. Lehrer*innen, der Schulleiter, die Schülersprecherin, Elternvertreter*innen und die Leiterin der Vernetzungsstelle Schulverpflegung. Dr. Benjamin Hennchen projiziert auf eine Leinwand die Ergebnisse einer Umfrage, die er für eine Fallstudie zum inklusiven Wandel des Ernährungssystems im Rahmen des BUA-Projekts durchgeführt hat. Es geht um die Akzeptanz des Schulessens in Berliner Integrierten Sekundarschulen. Hennchen, der wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Technik und Gesellschaft (ZTG) an der TU Berlin ist, berichtet davon, dass im Schnitt zwei Drittel der Berliner Sekundarschüler*innen nicht am Schulessen teilnehmen und diejenigen, die essen gehen, größtenteils „eher nicht zufrieden“ sind. Und er fasst die Wünsche der Befragten zusammen, dass sie gerne mehr Zeit zum Essen hätten oder der Speiseraum ansprechender gestaltet werden sollte. Kurz nach dem Vortrag entbrennt eine lebhafte Diskussion, wie man die Situation verbessern könnte.

„Die Schulverpflegung bietet eine große Chance, allen Bevölkerungsgruppen ein gesundes und nachhaltiges Essen anzubieten“, sagt Prof. Dr. Dr. Martina Schäfer, die die Fallstudie zu kommunalen Ernährungsstrategien innerhalb des BUA-Projekts leitet und dafür eng mit 25 Berliner Sekundarschulen, der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie und der Vernetzungsstelle Schulverpflegung zusammenarbeitet. Ihr Ziel ist es, durch Umfragen und Datenerhebung die Situation in den Berliner Schulkantinen besser zu verstehen und Strategien zu entwickeln, damit mehr Kinder am Schulessen teilnehmen – und so der soziale Zusammenhalt gestärkt wird. „Wir machen jeder Schule auf der Basis unserer Forschung individuelle Vorschläge, wie das Essensangebot attraktiver werden kann.“ So könne es zum Beispiel einen großen Unterschied machen, ob eine Klasse mit ihrer Lehrkraft gemeinsam zum Mittagessen geht und die Kantine als einen Raum für Austausch etabliert, oder jeder für sich selbst die Mittagspause bestreitet. Auch die Schüler*innen hin und wieder zu fragen, wie es ihnen schmeckt, oder sie über das Essensangebot mitbestimmen zu lassen, könnte die Akzeptanz erhöhen. In der Umfrage beklagen die Schüler*innen, dass sie an der Gestaltung des Mittagessens und des Speiseraums so gut wie nicht beteiligt werden.

Ein konstruktiver Dialog mit der Zivilgesellschaft

Wir hoffen auf eine Vernetzung mit anderen Schulen, die bereits Maßnahmen ausprobiert haben, die vielleicht auch für uns sinnvoll sein könnten“, sagt Julia Hansen, die Ganztagsbeauftragte der Ernst-Reuter-Schule. Mehrere der teilnehmenden Berliner Schulen haben bereits beschlossen, mit der Vernetzungsstelle Schulverpflegung einen umfassenden Veränderungsprozess anzuschieben. Martina Schäfer hofft, dass durch den Impuls des BUA-Projekts eine neue Normalität entstehen könnte, in der Schulverpflegung eine stärker verbindende Wirkung entfaltet.

Auch in den fünf anderen Fallstudien, etwa zu Initiativen wie der „Bürgeraktiengesellschaft für den ökologischen Landbau“, setzt das BUAProjekt bewusst auf den Austausch mit der Gesellschaft und auf Wissen, das außerhalb der akademischen Welt zu finden ist. Das BUA-Team der Research Forums, das an der TU Berlin angesiedelt ist und sich um transdisziplinäre Forschung kümmert, hat dafür ein maßgeschneidertes Austauschformat entwickelt. Es bringt Vertreter*innen aus Politik, Wirtschaft und organisierter Zivilgesellschaft zu einem konstruktiven Dialog mit der Wissenschaft zusammen: die „Trialoge“. So diskutierten Ende November 2022 rund 60 Akteur*innen – vom Staatssekretär bis zur Foodsharing-Aktivistin, vom Vertreter der Landesarmutskonferenz bis zum Sprecher eines Bio-Supermarkts – darüber, was sozialen Zusammenhalt im Ernährungsbereich ausmacht, wo die Probleme liegen und was getan werden könnte, um ihn zu fördern. Die Ergebnisse und daraus abgeleitete Handlungsempfehlungen hat das Forschungsteam ausgewertet und in einem digitalen Diskussionsatlas unter viz.governance-platform.org veröffentlicht. „Der Wandel des Ernährungssystems wird viele Konflikte mit sich bringen“, sagt Martina Schäfer. „Deshalb ist es wichtig, dass wir die soziale Dimension von vornherein mitbedenken.“

Originalpublikation

Der Text ist erschienen in der Broschüre "Wir/Vier - Die TU Berlin in der Berlin University Alliance".