Frau Prof. Schäfer, wie entstand Ihre persönliche Affinität zu China?
Ich war am Anfang meines Studiums – Sinologie, Japanologie und Politikwissenschaften – für fast zwei Jahre in China. Dafür musste man sein Studium unterbrechen. Die Studienleistungen wurden Anfang der 1990er-Jahre kaum anerkannt, und China war nicht so offen wie heute. Mein Ziel war eigentlich der Journalismus. Doch dann wurde dort mein tiefes Interesse für die chinesische Geschichte geweckt.
Sie sind seit mehr als zehn Jahren in Forschung und Lehre mit der TU Berlin und dem TU-China-Center verbunden. Was hat Sie daran gereizt?
Die TU Berlin hat diese besondere Verbindung zwischen Technik- und Literaturwissenschaften – und es gibt das China-Zentrum. Dort finde ich höchste Kompetenz mit sowohl historischem als auch sprachlichem und technischem Verständnis. Fachlich läuft hier alles zusammen, um einen Gesamtüberblick zu bekommen. Die Studierendenschaft ist divers, international und kommt mit verschiedensten Vor- und Sprachkenntnissen. In der Forschung erfordert die heutige Informationsflut eine gesteigerte Methodenkompetenz. Da bietet der Standort Berlin mit seiner Ballung an Internationalität und Forschungseinrichtungen ebenfalls einmalige Chancen.
China erstarkt wirtschaftlich und wissenschaftlich sichtbar. Ist das im Westen eigentlich schon richtig angekommen?
Nein, man unterschätzt China massiv. Obwohl die moderne Entwicklung ja bereits vor 30 Jahren begann, wird sie hier noch ängstlich beobachtet, weil man sie nur schwer einschätzen kann. Denn in Deutschland beschäftigen sich nur ganz wenige Institutionen damit, wie sich China wissenschaftlich und technisch entwickelt hat, oder auch nur damit, wie sich im 20. Jahrhundert ein System entwickelt hat, das ja auf einer Planwirtschaft beruhte und heute noch beruht. Was im Westen auch nur langsam verstanden wird: Die Entwicklung Chinas zur wirtschaftlichen und wissenschaftlichen „Supermacht“ ist keine Zukunftsmusik mehr, sondern schon längst Fakt. Auch wenn viele argumentieren, chinesische Wissenschaftler*innen seien nicht so kreativ und innovativ wie wir, muss man sehen: Selbst wenn der prozentuale Anteil von Wissenschaftler*innen und Hochgebildeten an der Bevölkerung wesentlich geringer ist als bei uns, so sind es zahlenmäßig dennoch viel mehr. Die Chinesen sehen ganz genau, was hier passiert, und verstehen uns auch besser als wir sie. Man sollte sich also weniger mit einer potenziellen „Gefahr“ beschäftigen als vielmehr mit dem Gedanken, dass man um die Vernetzung nicht herumkommt. Chinesische Wissenschaftler*innen kann man zukünftig nicht mehr außer Acht lassen. Das gilt übrigens auch für Wissenschaftler*innen aus Ländern in Südamerika oder Afrika.
Wie ist das aus Ihrer Sicht am sinnvollsten durchzuführen?
Gerade Wissenschaftler*innen sollten sich nicht von kurzfristigen politischen Entwicklungen lenken lassen, sondern langfristig denken: langfristiges Engagement, Austausch, Vernetzung. Sie sollten sich auf das Thema konzentrieren und dafür passende Partner*innen suchen, nicht so sehr Institutionen. China schickt seine Leute schon seit vielen Jahren ins Ausland, um mögliche Entwicklungspartner zu suchen. An den chinesischen Universitäten werden Zentren zur Untersuchung der Wissenschaftssoziologie und -geschichte des Westens gegründet. Man kann sich in China für solche Themen sehr gut vernetzen. Und vor allem: Man kann nicht früh genug mit dem Netzwerken anfangen, auch schon im Studium. Später wird es immer schwieriger. Ich weiß, dass die Sprache abschreckt, aber wer es wagt, hat eigentlich schon gewonnen. Es bieten sich große Karrierechancen.
Welche eigenen Forschungsziele wollen Sie mit dem Leibnizpreis ausbauen?
Ich möchte den wissenschaftlichen Blick für internationale Entwicklungen öffnen – den Austausch mit vielen Kulturen ausbauen. Das chinesische Wissenschaftssystem ist so groß, weist so viele wichtige Publikationen auf, die im Westen aufgrund der Sprachbarriere überhaupt nicht wahrgenommen werden. Wir müssen uns fragen, ob wir uns das leisten können, mit einem fast kolonialen Blick auf dem Englischen als „lingua franca“ zu bestehen und unseren Blick auf unsere wissenschaftliche Organisation als einziges Modell zu beschränken. Die zu enge öffentliche Wahrnehmung von Wissen als gegeben oder von Wissenschaft als einzig moderne Episode statt als globales und vielfältiges Phänomen betrifft nicht nur die Wissenschaft Chinas.
Und ich möchte die Langzeitperspektive stärken, die verschiedenen Perioden und Epochen in den Blick nehmen. Denn obwohl die Forschung zur Wissenschaftsgeschichte für das 20. Jahrhundert wirklich stark ist, braucht sie Unterstützung für die Untersuchung der frühen Perioden, um zu erkennen, wo das Wissen in seiner Vielfalt herkommt. Denn darauf hat die westliche Forschung aus den genannten Gründen bisher nur wenig Zugriff. Ein weiterer Fokus zur Technikgeschichte wird konkret auf den Forschungen zu Schnittstellen und Grenzen zwischen Tieren, Pflanzen und Materialien liegen. Seidenraupenmanufakturen spielen da zum Beispiel eine Rolle oder die Beschäftigung mit Material, das sich vom Tier zum Subjekt gewandelt hat, wie Bucheinbände aus Leder, oder auch die Entwicklung von Kunststoffen wie Polymeren. Dazu werde ich auch Naturwissenschaftler*innen im Team haben.
Vielen Dank für das Gespräch.
TU intern 1/2020, Patricia Pätzold-Algner
