Arbeitswissenschaft

Forschungsprofil

Unser Ziel im Fachgebiet Arbeitswissenschaft Berlin (AwB) ist es Lösungen für aktuelle und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen - insbesondere eines verbesserten Kosten-Nutzen-Verhältnisses der Digitalisierung - mitzugestalten und so auch die Arbeitswissenschaft inhaltlich wie methodisch weiterzuentwickeln. Diesem Ziel gehen wir derzeit vor allem in medizinischen Arbeitssystemen nach. Dort können wir grundlegende Herausforderungen der Digitalisierung auf kleinstem Raum untersuchen:

(a) ein breites Spektrum an Arbeitsaufgaben: von hoch standardisierten Prozessen (z. B. Operationsabläufe) über Verwaltungsaufgaben (z. B. Dokumentation) bis zu stark individualisierten Entscheidungen (z. B. Therapieentscheidungen)

(b) unterschiedliche Erwartungen und Bedarfe von Expert*innen und Laien;

(c) eine hohe Fragmentierung einzelner digitaler Lösungen ("digitale Dritte") bzw. deren mangelnde Integration bei steigendem Digitalisierungsgrad.

In unserer Arbeit leiten wir daraus zwei übergreifende Forschungsfragen ab:

  • Wie kann man das Kosten-Nutzen Verhältnis der Digitalisierung in medizinischen Arbeitssystemen verbessern?
  • Wie kann man Entscheidungsfindung durch „digitale Dritte“ in medizinischen Arbeitssystemen unterstützen? 

Kosten-Nutzen Verhältnis der Digitalisierung verbessern?

Die Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis fokussiert die Suche nach einem kontextspezifischen Optimum zwischen wünschenswerter Entlastung und zusätzlicher Belastung durch Digitalisierung. Unsere Forschung zeigt seit ca. 10 Jahren einerseits, dass Digitalisierung Produktivität steigern kann, sie aber häufig durch Brüche zwischen analogen, alten und neuen digitalen Arbeitsprozessen behindert werden (z. B. Feufel, Robinson, & Shalin, 2011; Mörike, Spiehl, & Feufel, in press). Andererseits wurde und wird deutlich, dass Mitarbeitende individuell und im Team arbeitsintensive Workarounds etablieren, um Arbeitssysteme trotz dieser Brüche zu stützen (z. B. Feufel, Lippa, & Klein, 2009; Mörike, Spiel, & Feufel, in press). Um dieses Kosten-Nutzen-Verhältnis systematisch zu untersuchen, verfolgen wir drei Forschungsansätze:

1.   Ethnografien digitaler Arbeitspraktiken: Um zu verstehen, wie digitalisierte Arbeitssysteme in der Praxis funktionieren im Vergleich dazu, wie sie intendiert waren, kombinieren wir psychologische, arbeits- und sozialwissenschaftliche Ansätze (z. B. Spiehl, Mörike, & Feufel, in press), und leiten daraus u. a. Systemanforderungen ab (z. B. Feufel, 2018; Feufel & Flach, 2019). Inhaltlich untersuchen wir dabei z. B., wie digitale Innovationen Organisationsstrukturen und Koordinationsprozesse verändern (z. B. Feufel et al., 2011; Mörike, Schmid, & Feufel, 2021) bzw. welche (un)produktiven Arbeitsformen durch sie entstehen (z. B. in Start-Ups; Landowski, Mörike, & Feufel, 2021).

2.   Analyse kausaler Zusammenhänge: Um die physischen, kognitiven und sozialen Anforderungen analoger, digitaler und hybrider Arbeitsformen vergleichend zu bewerten und daraus Standards für die Arbeitsplatzgestaltung abzuleiten, nutzen wir klassische Experimente. Beispielsweise bauen wir derzeit das Hybrid Work Lab auf, in dem wir gemeinsam mit Partnern aus Industrie und Wissenschaft hybride Arbeitsformen in Bezug auf Produktivität und Work-Life-Balance untersuchen und Best Practices ableiten.

3.   Menschzentrierte Gestaltung digitaler Systeme: Um digitale Innovationen menschzentriert zu entwickeln, nutzen wir ko-kreative Ansätze, d. h. wir entwickeln Lösungen gemeinsam mit Nutzer*innen, z. B. für die personalisierte Beratung von Menschen mit genetisch erhöhten Krebsrisiken im Projekt dVP_FAM. Dabei entsteht eine digitale Versorgungsplattform, die Technik- und Medienbrüche überwindet und so Arbeitsabläufe über Patient*innen, Ärzt*innen und Organisationen hinweg unterstützt. Die Evaluation dieser Plattform mittels Mixed Methods wird wertvolle Hinweise liefern, wie das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Digitalisierung verbessert werden kann.

Wie kann man Entscheidungsfindung durch „digitale Dritte“ unterstützen?

Eine zentrale Herausforderung der voranschreitenden Digitalisierung ist es, dass Entscheidungen gemeinsam mit immer mehr „digitalen Dritten“ getroffen werden müssen. Zusätzlich dazu, dass Fachpersonal in der Medizin immer mehr digitale Lösungen nutzen muss, die nur selten aufeinander abgestimmt sind, bedienen sich aktuell auch Patient*innen immer häufiger selbstgewählter digitaler Tools. Unsere aktuelle Forschung zeigt am Beispiel von Symptom-Checkern – das sind Apps, die Symptome abfragen und darauf basierend Handlungsempfehlungen geben (z. B. abwarten oder die Notaufnahme aufsuchen) –, dass die Qualität der App-basierten Empfehlungen meist nicht sehr hoch (z. B. Schmieding et al., in press) und vor allem schwer einzuschätzen ist. Gleichzeitig besteht jedoch eine Bereitschaft, den Empfehlungen zu folgen (z. B. Kopka et al., in press). Daraus ergeben sich für unsere Forschung folgende Fragen zum praktischen Einfluss der Mensch-Technik-Interaktion auf die Entscheidungsfindung und damit die Kompetenz, digitale Tools effektiv zu nutzen:

1.   Wie verändern digitale Innovationen die Mensch-Technik Interaktion? Neben der Forschung zur Mensch-Technik-Interaktion mit Symptom-Checkern, untersuchen wir diese Frage aktuell auch im Projekt OVID. Dabei analysieren wir mittels quasi-experimenteller Methoden, wie der Einsatz von Videoberatungen die Kommunikations- und Entscheidungsmuster von Ärzt*innen und Patient*innen im Vergleich zur klassischen Präsenzberatung ändert. In Folgestudien untersuchen wir, wie Körperhaltungen, die Ärzt*innen im Bildausschnitt einnehmen, oder der Kamerawinkel, aus dem sie aufgenommen werden, die Wahrnehmung ihrer Kompetenz und damit das in sie gesetzte Vertrauen beeinflussen (z. B. Grün et al., 2022).  

2.   Wie kann die Entscheidungsfindung durch digitale Technologien besser unterstützt werden? Antworten auf diese Frage liefert z. B. das Projekt iKNOW: Um Entscheidungen zu unterstützen, entwickelte das Team auf Basis von umfangreichen Arbeitsplatz- und Aufgabenanalysen ein online-basiertes  Beratungstool, das alle entscheidungsrelevanten Informationen zentral verfügbar macht, welche bisher nur verstreut über verschiedene analoge und digitale Technologien und in unterschiedlichen Formaten vorlagen. Dabei entwarfen wir unterschiedliche Zugänge (Interfaces), die jeweils auf die Bedarfe der Ärzt*innen und Patient*innen zugeschnitten sind, um so die gemeinsame Entscheidungsfindung – in diesem Fall für den Umgang mit familiär bedingten Krebserkrankungen – bestmöglich durch ein Beratungstool unterstützen zu können.  

3. Wie können Menschen bei der Entscheidungsfindung besser unterstützt werden (Empowerment)? Nicht immer können digitale Lösungen die Entscheidungsfindung optimal unterstützen. Um Menschen zu unterstützen, dennoch gute Entscheidungen zu treffen, entwickeln wir einerseits Aus- und Fortbildungsmaßnahmen mithilfe von digitalen Technologien wie MOOCs (z. B. im Projekt RAI students) oder Online-Lernplattformen (z. B. im Projekt iKNOWgynetics). Ziel ist es dabei, entscheidungsrelevante Informationen (z. B. Erkrankungsrisiken) möglichst bedarfsgerecht (z. B. in Bezug auf die gewünschte Informationstiefe) auf unterschiedliche Nutzer*innengruppen zuzuschneiden und damit den Lernerfolg zu maximieren. Andererseits schulen wir Ärzt*innen und Patient*innen im Umgang mit risikobehafteten Vorhersagen, die u. a. über digitale Technologien vermittelt werden. Seit 2010 hat Markus Feufel und das AWB-Team so über 1.000 Ärzt*innen im Bereich Risikokommunikation weitergebildet.