Zentrum für Antisemitismusforschung

Der Sammler und seine Dinge – Erforschung der Sammlung Wolfgang Haney

Bei dem Verbundprojekt zur Erforschung der Sammlung Wolfgang Haney handelt es sich um eine Kooperation zwischen dem Zentrum für Antisemitismusforschung und dem Deutschen Historischen Museum (DHM), wo sich die Sammlung seit Anfang 2020 befindet. Die Kollektion wurde durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Kulturstiftung der Länder sowie mit Eigenmitteln des DHM erworben. Wolfgang Haney baute seine circa 15.000 Objekte umfassende Sammlung ab 1989 bis zu seinem Tod 2017 auf und die verschiedenen Materialgruppen spiegeln gleichzeitig sein breites Sammlungsinteresse wider: Die Schwerpunkte liegen auf der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und Europa, der NS-Verfolgungs- sowie Holocaustgeschichte und der Erinnerungskultur nach 1945. Die Sammlung umfasst Primärquellen wie Dokumente, Pässe und Briefe, zudem Plakate, Fotos und Postkarten sowie Objekte aus Konzentrationslagern bis hin zu verschiedenen dreidimensionalen Antisemitica wie Porzellanfiguren, Kannen und Bierkrügen. Die Entstehungs- und Hauptverbreitungszeiten der Objekte reichen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Zudem kann das Forschungsprojekt Informationen aus Haneys Korrespondenzen mit Wissenschaftler:innen, Museen und Gedenkstätten, erhaltenen Leihverträgen für Ausstellungen, Ankaufsunterlagen sowie Zeitungsartikeln gewinnen, die ebenfalls Teil der Sammlung sind.

Wolfgang Haney wurde 1924 als Sohn von Gottfried (1888–1971) und Erna Haney (geb. Friedlaender, 1895–1990) in Berlin geboren. Aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Mutter galt Haney seit den 1935 erlassenen „Nürnberger Gesetzen“ als „Mischling 1. Grades“ und war so der NS-Rassenideologie unterworfen. Gottfried Haney wurde 1944 in ein Arbeitslager der Organisation Todt eingewiesen, während Erna Haney in der Blindenwerkstatt Otto Weidt Zwangsarbeit leistete und gegen Ende des Krieges zeitweise verfolgungsbedingt untertauchte. Durch die Hilfe ihres Sohnes Wolfgang Haney überlebte sie die NS-Zeit, ihr Bruder Kurt (1897–1942), dessen Ehefrau Friederike (geb. Boldes, 1891–1942) und andere Familienmitglieder hingegen nicht. Auch aufgrund dieser Familienbiografie entschloss sich Wolfgang Haney dazu, die Sammlung in ihrer heutigen Form aufzubauen, um aufklärerische Arbeit über Antisemitismus und die Judenverfolgung während der NS-Zeit zu leisten. Für seine langjährige Sammel- und Ausstellungstätigkeit erhielt Haney unter anderem das Bundesverdienstkreuz und den Obermayer German Jewish History Award. Wolfgang Haney verstarb 2017 in Berlin. 

Das Forschungsprojekt gliedert sich in zwei Teilprojekte mit unterschiedlichen Schwerpunkten, die auf der Sammlung Haney gründen: Zum einen die Rekonstruktion der Sammlerpersönlichkeit Haney, die Entstehung der Sammlung, eine Analyse des damit verbundenen Marktgeschehens sowie die Kontextualisierung zu anderen Sammler:innen; zum anderen die Untersuchung der verschiedenen Antisemitica mit besonderem Fokus auf Alltagsgegenstände und deren Nutzung wie Verbreitung.

Teilprojekt I

Neben (familien-) biografischen Aspekten untersucht das Teilprojekt I zum einen die Spezifika der Sammlung Haney. Dazu zählt unter anderem, dass Wolfgang Haney die Objekte mit der Perspektive eines Zeitzeugen und Betroffenen der NS-Judenverfolgung zusammentrug. Diese Subjektivität zeigt sich beispielsweise durch Dokumente der NS- und Nachkriegszeit von Haney und seiner Familie als Bestandteilen der Sammlung. Zudem forschte Haney selbst zu zahlreichen Objekten und kommentierte diese. Davon zeugen noch heute handgeschriebene Zettel in der Sammlung, die neben Informationen zum jeweiligen Objekt auch in vielen Fällen weiterführende Hinweise – beispielsweise zur Provenienz – geben. Zum anderen werden die Entstehung und das Wachstum der Sammlung, deren Logik und Ordnungsprinzip rekonstruiert. Hierbei ist zu beachten, dass Haney die aus ihrem ursprünglichen Kontext gelösten Objekte innerhalb seiner Sammlung in einen neuen, subjektiven Zusammenhang zueinander brachte und folglich auch neue Wissensverbindungen schuf. Auch Fragen nach psychologischen Aspekten des Lebens mit den Objekten sowie der Motivation des Sammelns stehen im Fokus.

Haney wird zudem als Akteur in einem regionalen, nationalen und internationalen Netzwerk betrachtet, dem darüber hinaus andere Sammler:innen, Wissenschaftler:innen, Händler:innen, Zeitzeug:innen und die Öffentlichkeit angehörten. Durch den Austausch in diesem Verbund erweiterte er stetig sein objekt- und marktspezifisches Wissen und tauschte sich darüber aus. So entstanden auch mehrere Publikationen über Themenbereiche der Sammlung, außerdem wurden Wanderausstellungen wie „Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten“ und „Angezettelt. Antisemitismus im Kleinformat“ nahezu ausschließlich mit Objekten Haneys kuratiert. Darüber hinaus vergab er äußerst freigiebig (Dauer-) Leihgaben an zahlreiche Museen, Gedenkstätten und Archive in Deutschland, Polen, Österreich und den USA und kam damit seiner Motivation nach, die Sammlung zur Aufklärung und politischen Bildung zur Verfügung zu stellen. Durch die Publikationen und Ausstellungen erlangte die Sammlung einen großen Grad der Öffentlichkeit, sodass sie als eine Form der Wissenskommunikation verstanden werden kann.

Gleichzeitig steht auf markthistorischer Ebene die Frage im Raum, über welche Erwerbswege und zu welchen Preisen die Objekte in die Sammlung gelangten. Bei der Beantwortung helfen Rechnungen, die zu einigen Ankäufen erhalten sind. Haney erwarb die Objekte über nationale und internationale, privatwirtschaftliche Distributionswege wie Tauschbörsen, Auktionshäuser sowie Händler:innen, wobei ihm diese durch seinen wachsenden Bekanntheitsgrad als Sammler auch proaktiv Angebote machten.

Schließlich wird die Kontextualisierung mit anderen, vergleichbaren Sammler:innen wie Arthur Langerman sowie weiteren Personen in Belgien, Deutschland, Österreich, Großbritannien und den USA vorgenommen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Biografien, Motivationen und Strategien des Sammelns herauszuarbeiten. Beachtung finden ferner institutionelle Sammlungen, die teilweise auf private Stiftungen oder Schenkungen zurückgehen. Bisher gibt es keine systematische Analyse dieses Typus’ von Sammler:innen, die Objekte des Antisemitismus sowie historischer Verfolgungsgeschichte zusammentrugen und -tragen. Die Grundlagenforschung dieses Projekts erarbeitet neue Erkenntnisse über deren Persönlichkeiten, Sammlungstätigkeiten und -strategien sowie die damit verbundenen Marktmechanismen. Diese Aspekte unterscheiden sich deutlich von solchen, die beispielsweise das Sammeln von Kunstgegenständen oder Dingen der Alltagskultur betreffen und welche bisher im Fokus der Forschung standen.

Teilprojekt II

Im zweiten Teilprojekt steht die von Haney gesammelte Objektgruppe der antisemitischen Alltagsgegenstände im Fokus. Hierbei handelt es sich um eine überaus vielfältige Materialgruppe. Sie reicht von Flachware, also Postkarten, Plakaten, Flugschriften, Notgeld und bedruckten Geldscheinen zu dreidimensionalen Objekten wie Porzellanfiguren, Geschirren, Bierkrügen, Türklopfern, Weinflaschenstöpseln sowie Aschenbechern.

Mit seinem Sammlungsinteresse am visuellen Antisemitismus reiht sich Haney in ein bisher zumeist auf die private Sammler:innentätigkeit beschränktes Feld ein. Die Mehrheit der mit der Sammlung Haney vergleichbaren, bekannten Sammlungen sind entweder noch privat oder gingen als Gesamtsammlungen in Museums- bzw. Institutssammlungen über. Ein gezieltes Sammeln dieser Objekte durch Institutionen ist bisher nur von kleineren US-amerikanischen Museen und Zentren bekannt. Die Zusammensetzung dieser Sammlungen zeigt zudem eine starke Verbindung der Antisemitismusforschung zur Stereotypen- und Rassismusforschung auf.

Der visuelle Antisemitismus bildet einen Teil des Alltagsantisemitismus und lässt sich Jahrhunderte zurückverfolgen. Mit der Erfindung des Buchdrucks und nicht zuletzt der Industriellen Revolution zog er schließlich in den Alltag der Menschen durch seine visuelle Verbreitung auf Flachware und Gegenständen ein. Die Herausarbeitung der Herstellungsgeschichte solcher Objekte bildet einen Teil der Grundlage für die Analyse und Interpretation der Objekte und welchen Antisemitismus sie zeigen, warum und wann. Bei der zeitlichen Einbettung aufzufindender visueller Stereotypen auf Alltagsgegenständen und deren Auftauchen auf Objekten ist bereits an dieser Stelle eine Parallelität erkenntlich: Neben Motiven, basierend auf Jahrhunderte alten judenfeindlichen Legenden, wie beispielsweise bemüht durch die Figur des „Ahasverus“ bzw. des „Ewigen Juden“, finden sich länderspezifische antisemitische Stereotype – wie etwa die Figuren des „Shylock“ oder des „Fagin“ – auf Objekten, deren Herstellungszeiten nicht groß voneinander abweichen.

Der Sichtung und Erfassung der Sammlungsobjekte durch das DHM, unserem Kooperationspartner, folgt eine Priorisierung bzw. Schwerpunktsetzung hinsichtlich der zu erforschenden Objekte, die etwa material-, objektgruppen- oder themenbezogen vorzunehmen ist. Der Gesamtfokus liegt auf der Kontextualisierung der Gegenstände: Wo, wie und von wem wurden sie hergestellt, wer hat sie erworben, wofür bzw. warum? Was genau zeigen sie und wie ist dies zu interpretieren? Erkenntnisgewinne über die Herstellungsgeschichte der Objekte, ob es sich beispielsweise um Massenprodukte oder Einzelanfertigungen handelt, lassen schließlich auch eine Einbettung nicht nur in den jeweils zeitgenössischen Kontext zu, sondern auch in den aktuellen – denn einen Markt für diese Objekte gibt es noch heute.

Nicht zuletzt steht die Frage nach der „Verwendung“ dieser Objekte im Raum und so die Frage nach ihrer Anwesenheit im Alltag der Menschen. Wie fand bzw. findet der Umgang mit ihnen statt? Wurde das bereits erwähnte Geschirr aus dem 19. bzw. frühen 20. Jahrhundert, auf dem sich etwa die Figur des „Fagin“ wiederfindet, alltäglich benutzt oder fand es einen „besonderen“ Platz in der Anrichte? Wozu werden die aus dem 21. Jahrhundert aus Polen stammenden und in Massen angebotenen „Souvenirs“ der sogenannten „Lucky Jew“- oder „Coin Jew“-Figuren verwendet? Eine Teetasse oder ein Aschenbecher ist nicht mehr „nur“ eine Teetasse oder ein Aschenbecher – die Objekte tragen durch den ihnen auferlegten Antisemitismus eine menschenverachtende Ideologie in private Haushalte, wo sie tagtäglich präsent sind und/ oder Benutzung finden.

Projektmitarbeiter*innen

Frau Wiebke Hölzer

Verbundpartner