Dezentral, multifunktional, durchmischt
Studentische Zukunftsbilder für die Transformation der Städte in Zeiten des Klimawandels
In dieser Stadt ist das Auto nicht mehr der Platzhirsch der Straße, sondern ein Verkehrsmittel neben vielen – dem ÖPNV, dem Rad und anderen Formen umweltfreundlicher Mobilität. Bei einem Teil der Einwohner ist der Arbeitsalltag durch Remote Work oder Homeoffice bestimmt. Lange Arbeitswege entfallen. Es ist eine Stadt, in der Ressourcen nicht mehr nur konsumiert, sondern auch vor Ort produziert werden wie Energie oder Gemüse auf Dächern und in Gemeinschaftsgärten. Kein Tropfen Regenwasser wird mehr durch die Kanalisation ins Meer gespült. Die Stadt ist ein Schwamm: Das heißt bei Starkregen gibt es genügend Flächen, in denen das Wasser versickern kann. Bei Hitze wird das Wasser über begrünte Dächer und Fassaden, Bäume und im Straßenraum angelegte Verdunstungsbeete zur Kühlung abgegeben. Dächern, Fassaden und Straßen werden so ganz neue Aufgaben zugeschrieben: Sie dienen der Verschattung, Verdunstung und Kühlung. Die Architektur ist geprägt durch mit Gemeinschaftsflächen ausgestattete Stadt- und Reihenhäuser, die je nach Bevölkerungsentwicklung aufgestockt werden können: platzsparendes Bauen statt Flächenfraß. Es ist eine Vision einer ganz und gar neuen Stadt für 50 000 Einwohner, gegründet auf den Braunkohleflözen des Tagebaus Garzweiler im Rheinischen Revier – entworfen von angehenden Stadtplanerinnen und Stadtplanern des Fachgebietes Städtebau- und Siedlungswesen der TU Berlin. Es ist eine dem Klimawandel angepasste, durchmischte, soziale, grüne und in Teilen autonome Stadt.
Denkfabrik von elf Hochschulen aus ganz Deutschland
Entstanden sind diese Ideen im Rahmen des Projektes „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“, das vom Bundesbauministerium seit 2009 gefördert wird. Studierende der Studiengänge Stadt- und Regionalplanung, Städtebau, Architektur, Raumplanung und Urbanistik von elf Hochschulen aus ganz Deutschland arbeiteten in einer universitätsübergreifenden Winterschule 2021 verankert an der TU Dortmund an urbanen Zukunftsbildern, in die Erfahrungen aus der Pandemie für die Entwicklung klimagerechter Städte eingeflossen sind. Seitens der TU Berlin waren vom Fachgebiet Städtebau- und Siedlungswesen Prof. Dr. Angela Million, Dr. Grit Bürgow, Dr. Anna Juliane Heinrich als Lehrende und Dr. Felix Bentlin als Projektkoordinator im bundesweiten Netzwerk der Planungsfakultäten federführend beteiligt. In Folge dieses Austauschs entstanden neue Kooperations- und Forschungsprojekte unter der Leitung von Dr. Felix Bentlin zur Entwicklung der Berliner Kieze und hybrider Bewegungsräume.
Veränderte Arbeitswelt und städtische Strukturen
„Viele Probleme, die bereits vor der Pandemie Lösungen verlangten, spitzten sich in der Pandemie zu – wie zum Beispiel die konkurrierende Nutzung öffentlicher Grünflächen und des Straßenraums oder der Umbau von monofunktionalen Handelslagen zu multifunktionalen Stadtbausteinen“, sagt Dr. Felix Bentlin. „Gleichzeitig wurde offenbar, dass angehende Stadtplaner und Architekten den Umbau der Städte zu klimagerechten Städten überall einfordern werden. Dabei ist klar, dass es für eine Kleinstadt, eine mittelgroße Stadt sowie Großstädte und Metropolenregionen wie das Rhein-Ruhr-Gebiet jeweils aufeinander abgestimmte Ansätze braucht.“ Die Studierenden gingen unter anderem den Fragen nach, wie sich eine veränderte Arbeitswelt, geprägt durch Remote Work und zunehmender Automatisierung, auf städtische Strukturen auswirkt. Welchen neuen Bedürfnissen Wohnen, Arbeiten, Mobilität, Handel anzupassen sind und welche Folgen der Rückgang des Pendelverkehrs auf die Beziehung zwischen Großstädten und ihren Speckgürteln hat aufgrund eines zunehmenden ortsungebundenen Arbeitens.
Drei Leitbilder
Die Studierenden arbeiteten drei Leitbilder heraus, die Stadtstrukturen nach der Pandemie künftig bestimmen werden, wobei längst nicht ausgemacht ist, ob Covid-19 wirklich zum Wendepunkt wird für eine nachhaltige, klimagerechte Stadtentwicklung. Die drei Leitbilder sind Polyzentralität, Nachbarschaft und Multifunktionalität. Polyzentralität meint, dass die Funktionen, die sich bislang traditionell in der Innenstadt konzentrierten, in unterschiedliche Stadtteile wandern, so wie es von der Berliner Kiezstruktur bekannt ist. Es entstehen durchmischtere Quartiere, die eben nicht mehr nur entweder Schlafstädte oder Arbeitsorte sind. Dadurch verändert sich die Mobilität. Radwege und Gemeinschaftsorte gewinnen mehr und mehr an Bedeutung. An die Stelle eines Stadtkerns treten viele.
„Durch diese Dezentralisierung der Innenstadt bekommt nachbarschaftliches Zusammenleben einen neuen Stellenwert. Das eigene Quartier- und Wohnumfeld wird entdeckt und für das Arbeiten, die Freizeitgestaltung, den Einkauf bestimmender“, sagt Dr. Felix Bentlin. Zunehmende Flächenbedarfe entstünden für nachbarschaftliche Initiativen, alternative Arbeits-, Wohn- und Gartenprojekte, unter anderem zur gemeinschaftlichen Selbstversorgung und für zusätzliche Dienstleistungen im Quartier. Das wiederum stärke den Fuß- und Radverkehr sowie den ÖPNV.
Damit verknüpft ist eine sich entwickelnde Multifunktionalität des öffentlichen Raums und von Gebäuden. Parks dienen nicht mehr nur dem gediegenen Spaziergang, sondern werden für Sport und Kultur genutzt. Bislang monofunktionale Einkaufszentren wandeln sich zu multifunktionalen Orten mit Wohnungen, Büros, Arztpraxen, Hotels und Kindergarten. Und Straßen übernehmen wichtige Funktionen bei der Anpassung des städtischen Raums an den Klimawandel. Sie werden so konstruiert, dass Niederschlagswasser kontrolliert in angrenzende Freiräume wie Parks, Grünflächen, Spielplätze oder unversiegelte Parkplätze abgeleitet wird, wo es versickern kann und in Hitzeperioden der urbanen Vegetation wieder zur Verfügung steht.
Konflikte sind unvermeidbar
„So erstrebenswert eine solche nachbarschaftliche, durchmischte Stadt ist, sie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass besonders durch die Multifunktionalität der Räume mehr Menschen um die gleichen Räume konkurrieren. Das wird nicht konfliktfrei ablaufen. In Berlin kann man diesen Kampf um den Straßenraum zwischen Auto- und Radfahrern bereits anschaulich erleben“, sagt Felix Bentlin. Bürger, Politiker, Stadtplaner, Investoren und Geschäftstreibende würden sich schwierigen Aushandlungsprozessen hinsichtlich Flächennutzung und Flächengerechtigkeit gegenüber sehen. Diese Aushandlungsprozesse zu einer Win-win-Situation für alle zu machen sei die originäre Aufgabe von Stadt- und Regionalplanern, die unter anderem an der TU Berlin ausgebildet würden.
Wagen, was Verwaltungen sich nicht trauen
Ein Markenzeichen des Projektes „Fachlicher Nachwuchs entwirft Zukunft“ ist, dass die Studierenden aus facettenreichen Aufgabengebieten gemeinsam zur Gestaltung von Städten ausdrücklich dazu ermuntert werden, mutige und wegweisende Ideen zu formulieren, die von Verwaltungen und Ministerien kaum gewagt werden. So schlugen die Studierenden auf dem 7. Hochschultag der Nationalen Stadtentwicklungspolitik die Einrichtung von Modellgebieten für Gewerbegebiete vor, wo in einem rechtlichen Rahmen mehr Raum für Experimente ist, damit visionäre Ideen zur Transformation der Städte nicht gleich an der ersten Verordnung scheitern.
Autorin: Sybille Nitsche
Publikation
Felix Bentlin, Hendrik Jansen, Päivi Kataikko-Grigoleit, Angela Million, Jose M. Velazco-Londono (Hg.), Stadtstrukturen im Stresstest: Zukunftsbilder einer durchmischten und klimagerechten Stadt nach der Pandemie, Universitätsverlag TU Berlin, 2021, 82 Seiten, ISBN (print) 978-3-7983-3228-7, ISBN (online) 978-3-7983-3229-4